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André Glucksmann

Von Ruth Pauli und Andreas Unterberger

Reflexionen

André Glucksmann: "Amerikanische TV-Serien sind viel besser als die europäischen"


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Wiener Zeitung:Herr Glucksmann, Sie haben sich vor vielen Jahren kritisch über den Antisemitismus in Österreich geäußert. Hat sich an Ihrem Urteil etwas geändert? Oder halten Sie Antisemitismus für ein Problem, das ewig bestehen wird?

André Glucksmann: Im Augenblick ist es ein Problem, das nicht aus der Ewigkeit kommt, sondern aus der Aktualität heraus. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es weniger Antisemitismus, weil die Erinnerung an Auschwitz noch sehr stark war. Allmählich ist die Erinnerung ein bisschen verblasst. Und jetzt nimmt man das Palästinenserproblem zum Anlass, ihn wieder rauszulassen. Antisemitismus ist nicht neu - und wird genauso lange existieren wie viele Nationalismen oder der Antiamerikanismus. Ich glaube ja, dass jeder Mensch ein Rassist ist. Aber man kann etwas dagegen tun.

Wie? Durch Erziehung?

Ja, auch. Vor allem aber durch Verantwortung, auch in den Medien, bei deren Reflexionen über aktuelle Geschehnisse. Nur: Dass der Nachbar, also der Nächste missverstanden wird, ist keine Neuheit. Als der Mensch das Feuer erfand, hat er damit Fleisch braten können, aber auch das Haus des Nachbarn angezündet.

Ist Rassismus eine Conditio humana?

Ja.

Sie selbst waren nach 1968 ja auch antiamerikanisch ausgerichtet.

Nein. Ich war gegen den Vietnamkrieg. Weil ich dachte, er ist falsch gemacht - und falsch gedacht. Mein erstes Buch war gegen den Vietnamkrieg. Aber ich glaube nicht, dass die Kriege im Irak und in Vietnam dasselbe sind.

Halten Sie den Vietnamkrieg auch heute noch für falsch?

Für falsch gekämpft. Die Motivation war nicht illegitim - Antikommunismus ist nicht illegitim. Aber der Krieg wurde so geführt, dass er illegitim wurde. Das war nicht nur der Fehler Amerikas, sondern auch der dritten Bewegung in Vietnam - die Buddhisten haben ihre Verantwortung nicht in die eigenen Hände genommen.

In Frankreich gibt es doch in der Politik über den Vietnamkrieg hinaus eine antiamerikanische Tradition.

Ja, es gibt diese Tradition, andererseits lieben wir Amerika. Die Amerikaner haben uns schließlich zweimal befreit. Auch jetzt scheinen viele Franzosen gegen Amerika eingestellt zu sein, aber wenn man genauer auf ihre Lebensgestaltung, ihren Way of life schaut: dann sind sie die amerikanischsten Europäer! McDonald´s macht in Frankreich das beste Geschäft in Europa. Blue Jeans, Kino, Literatur, Jazz - das gesamte praktische Leben ist bei uns amerikanisiert - und das schon sehr lange. Ein Artikel des "Economist" im Juni 68 trug den Titel: "Dany (Daniel Cohn-Bendit, Anm.) rettet den Dollar. " Damals hat De Gaulle gegen den Dollar angekämpft, aber mit dem Mai 68 war das vorbei. Ich erinnere mich an amerikanische Journalisten im Mai 68, die mir lächelnd gesagt haben: "Jetzt kommt Frankreich auf den amerikanischen Weg. Denn die Studenten amerikanisieren Frankreich."

Wird Frankreich jetzt erstmals von einem proamerikanischen Präsidenten regiert?

Was heißt proamerikanisch?

Zumindest nicht mehr antiamerikanisch.

Das ja. Aber pro-? Es gibt doch viele Amerika.

Welches ist Ihnen am liebsten?

Das kulturelle. Die Literatur, das Kino, auch das Fernsehen. Die amerikanischen Serien sind viel besser als die europäischen. Und die Leute schauen sie gerne an. Aber warum sind sie besser? Sie sprechen alle Probleme ohne Political Correctness an. Sie haben 500 Filme über Vietnam gemacht. Wissen Sie, wie viele Filme wir über den Algerienkrieg gemacht haben? Vielleicht drei. Und die haben Ausländer gemacht.

Verdrängt Frankreich den Algerienkrieg?

Das ist nicht das Einzige, was wir verdrängen. Eine der guten Seiten von Nicolas Sarkozy ist, dass er Verdrängung weder liebt noch akzeptiert. Obwohl er sich gegen den Geist von 68 ausgesprochen hat, ist er ein neuer Cohn-Bendit, der ganz frech spricht. Cohn-Bendit hat im Mai 68 gemeinsam mit dem Gewerkschaftsboss und dem Chef der KP demonstriert und dann öffentlich im Fernsehen gesagt: "Das ist das erste Mal, dass ich zwischen zwei Stalinisten gegangen bin." Frech, aber offen zu sprechen - das tun Politiker in Frankreich üblicherweise nicht, Sarkozy aber schon.

Dafür waren die französischen Intellektuellen immer berühmt. Von diesen hört man heute aber wenig.

Vielleicht sind die Menschen selbst intellektuell geworden. Sie haben es nicht mehr nötig, dass jemand für sie denkt.

Also jeder Franzose ein Intellektueller?

Nicht jeder, aber die meisten lieben diese Art, frech zu sprechen und zu denken. Cohn-Bendit war ein Student, der nicht als Intellektueller galt, aber direkt sprach. Manchmal sprechen Schriftsteller auch direkt - und manchmal tun das sogar einige Politiker. Das ist aber auch in Frankreich eine Ausnahmeerscheinung.

Ein Hauptvorwurf der Linken an Sarkozy ist, er sei neoliberal.

Die Frage ist: Was ist liberal? In Amerika ist ein Liberaler ein Linker. In Frankreich ist die Tradition des Liberalismus nicht ökonomisch, sondern politisch. Was bedeutet liberal also heute? Wenn es nur bedeutet, dass man die Freiheit liebt, dann ist Sarkozy ein Liberaler. Er ist der Einzige in der politischen Klasse, der weiß, dass die Vereinigung Europas von der Freiheitsbewegung in Osteuropa herkommt.

Andere Politiker der alten EU-Länder akzeptieren die Ostländer immer noch nicht als gleichwertig.

Speziell Chirac: Er hat in der Irakfrage gesagt, dass die Osteuropäer ihr Maul halten sollen, wenn sie mit Frankreich nicht einer Meinung sind. Sarkozy nennt das Arroganz. Sarkozy ist nach Kiew gefahren, als dort die orange Revolution stattfand. Er hat als erster Politiker eines großen Landes gesagt, dass die Tschetschenienfrage im Kontakt zu Russland nicht nur ein Detail am Rande ist. Zu viele sind dort schon umgebracht worden. Daher weiß er auch, dass Europa sich nicht deshalb vereinigt hat, weil Westeuropa so glänzend und so reich ist. Die große Bewegung war von Anfang an die Freiheitsbewegung im Osten. Und es liegt noch ein langer Weg vor uns, etwa in Georgien und in der Ukraine. Das geht nicht von selbst, aber nach den Niederlagen in Budapest und in Prag ist auch die Berliner Mauer gefallen. Das weiß Sarkozy und hat zum Beispiel Saakaschwili ( den Staatspräsidenten Georgiens, Anm. ) im Elysée empfangen. Das hat Chirac nicht gemacht, und auch die Sozialisten nicht.

Nicht nur Politiker klammern den Osten aus, auch die westeuropäischen Intellektuellen tun das.

Das stimmt für Frankreich nur bedingt. Gegen das Kriegsrecht in Polen etwa gab es in Frankreich mehr Protest als in anderen Ländern. Nicht von links, nicht von rechts, sondern von Gewerkschaftern, speziell christlichen, und von einigen Künstlern, wie Yves Montand, Simone Signoret oder der Gréco. Auch während der Jugoslawienkrise gab es in Frankreich mehr Proteste als im Rest Europas. Dann haben die westlichen Kräfte endlich eingegriffen. Aber das dauerte sehr lange, und wir waren sehr aufgebracht, weil die französische Regierung sagte: Ach, das sind ja nur die Intellektuellen, die protestieren.

Allerdings waren es letztlich die Amerikaner, die eingegriffen haben.

Rund um Clinton gab es einflussreiche Politiker, die aus Europa kamen - allen voran Madeleine Albright. Auch die Engländer behaupten, dass Europa zwar ohne Waffen, aber durch Proteste Einfluss ausgeübt hat.

Kann man Totalitarismus nur mit intellektuellem und friedlichem Protest besiegen?

Nein. Aber er bringt sehr viel. Ein Beispiel ist der Islamismus: Wenn man ihn nur mit Waffen und der Polizei bekämpft, bringt das nichts. Islamismus ist Terrorismus gegen Muslime. Im Irak werden heute jeden Monat 3000 Menschen umgebracht, die meisten davon sind Nichtamerikaner. Früher gab es 3500 Tote in mehr als vier Jahren. Und jetzt sterben genausoviele Iraki jeden Monat. Also richtet sich der Terrorism us im Irak gegen die Iraki. Der Kampf gegen den Islamismus muss daher mit Hirn geführt werden. Zum Beispiel über die Frauen. Sie haben keine Waffen, aber sie sind eine der stärksten Kräfte, die im Irak und speziell im Iran eingreifen könnten.

Wie sollen das die im Islam unterdrückten Frauen anstellen?

Die Frage ist nicht, ob sie gewinnen, sondern ob sie kämpfen. Wir müssen sie dabei unterstützen - nicht mit Waffen, sondern mit Ideen. Genauso wie wir es bei Dissidenten getan haben, und wie wir in Frankreich Professorinnen und Journalistinnen in Algerien unterstützt haben. Das waren Frauen, die - obwohl eine tödliche Fatwa gegen sie ausgesprochen worden war - im Land geblieben sind, um gegen den Islamismus zu kämpfen.

Ihre Stärke ist nicht militärisch. Wir unterstützen sie aber nicht genug. Ein Beispiel: Das französische Fernsehen berichtet kaum über den Kampf gegen den Terrorismus in Algerien, obwohl die Leute dort französische Sender empfangen.

Heißt das, Sie hoffen, dass der Islamismus - wie das Christentum im 18. Jahrhundert - durch Aufklärung von innen heraus sein totalitäres Gesicht verlieren könnte?

Nicht nur von innen heraus. Die Massenmedien wären wichtig. Die Amerikaner intervenierten militärisch, machten dann aber keine Fernsehprogramme für den Irak. Die Leute dort haben jetzt zwar die Freiheit, alles zu sehen - aber alles, was sie sehen, ist islamistisch. Das ist keine unbedeutende Frage - es geht um die Unterstützung der Frauen und der Liberalen im Islam. Man darf erstens nicht wegschauen und zweitens nicht sagen, dass alle Muslime Islamisten sind.

Aber in Ihren Augen ist es doch legitim, militärisch einzugreifen?

Wenn man gewinnen kann, ja. Man richtet sich nicht gegen den Islam, wenn ein Mörder an der Spitze eines Staates steht und in dreißig Jahren mehrere Millionen Menschen tötet. Die einfachen Menschen können dann nicht mehr gegen ihn kämpfen. Wenn du im Café darüber sprichst, wird man dich festnehmen, dir Nase und Zunge abschneiden oder dich töten. Auch wenn ich ganz genau weiß, dass die Pazifisten nicht einverstanden sind: Es gibt ein Recht der Völker, nicht nur sich selbst zu befreien, sondern auch ein Recht darauf, befreit zu werden, wenn man es nicht selbst kann.

Es gibt also Grenzen für die Ablehnung der "Einmischung in interne Angelegenheiten" eines Landes?

Diese Idee steht meiner Meinung nach auch am Anfang der UNO. In San Francisco gründeten dieselben Mächte die UNO, die mit Waffen nach Kontinentaleuropa gekommen waren, weil die Deutschen und die Franzosen sich nicht mehr selbst befreien konnten. Das war sehr gefährlich - für die Befreier und für die Befreiten. Aber manchmal muss man es riskieren: Das ist eine Lehre aus dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts. Auch wenn es ein Recht gibt, sich zu befreien, oder befreit zu werden, sagt ein solches allgemeines Recht nichts darüber aus, was in speziellen, konkreten Fällen zu tun ist.

Es ist aber ein allgemeingültiges Prinzip?

Ja. Es gibt keinerlei Tabu, dass man ein Volk krepieren lassen muss, nur weil man bestimmte Grenzen nicht überschreiten darf.

Stichwort Europa: Ist es sinnvoll, wenn wir Europäer uns bemühen, eine Einheit wie die USA zu werden?

Europa wird nicht wie die Vereinigten Staaten werden, denn hier herrschen ja ganz andere Verhältnisse. Aber es ist sehr gut, wenn wir uns vereinigen. Putin spielt mit jeder Nation in Europa ein separates Spiel. Nur: Jeder allein ist gegen ihn zu schwach, gemeinsam sind wir viel stärker. Am Anfang der Europäischen Gemeinschaft standen Stahl und Kohle, aber es ging nicht nur um ökonomische Fragen; Deutschland und Frankreich haben sich auch gegen den Kommunismus verbündet. Antifaschismus, Antikommunismus und Antikolonialismus waren anfangs der Zement von Europa. Jetzt müssen wir uns darüber klar werden, ob Freiheit und Unabhängigkeit in Energiefragen der neue Zement sind. Und ob die Erpressung durch Putin zu leicht genommen wird.

Die Frage der Einheit Europas hat also wenig mit einer EU-Verfassung zu tun?

Ja, auch nicht damit, ob man sich in einer Föderation organisiert. Die Frage ist vielmehr: Was wollen wir tun? Wollen wir, dass unsere Energieversorgung von Moskau oder vom Islam geregelt wird? Wenn wir uns unserer gemeinsamen Stärke besinnen, können wir härter verhandeln. Europa muss Stärke zeigen, indem wir jene Völker unterstützen, die ihre Freiheit wollen.

Konkret etwa die Ukraine?

Ja, zum Beispiel die Ukraine. Ich glaube, vor zwei Jahren hat Putin etwas gelernt. Er hat - wie alle Russen - immer gedacht, dass die EU gar nicht existiert, sondern nur Frankreich, Deutschland etc. Da war er nicht der Einzige. Und als die orange Revolution in der Urkaine ausbrach, war Putin sehr erstaunt, dass die Leute, die für ihn immer als Russen gegolten hatten, plötzlich alle wegwollten. Und auch die europäische Unterstützung für Juschtschenko hat ihn sehr verunsichert.

Der Zement aus Antifaschismus und Antikommunismus bröckelt, ist alt geworden. Was uns heute zusammenhält, sind Ihrer Meinung nach Freiheit und Energieversorgung.

Die Frage, ob wir zusammenarbeiten, um unsere Abhängigkeit in der Energieversorgung abzubauen, ist materiell. Die ideelle Frage aber ist die Frage der Freiheit. Hinter Nazismus, Kommunismus und Kolonialismus stand immer die Frage der Freiheit. Die Menschen aus dem Osten haben vor allem für die Freiheit gekämpft.

Aber auch für das Auto vor der Haustür.

Natürlich. Aber das ist auch ein Teil der individuellen Freiheit. Die Charta 77-Verfechter konnten keine Versammlungen abhalten, weil jedes Café, jeder Turnsaal dem Staat gehörte - und der hat ihre Versammlungen verboten. Privateigentum ist also auch eine Bedingung für Freiheit. Wenn Putin die Freiheit der Presse abschafft und Chodorkowski nach Sibirien schickt, dann gehen spirituelle Freiheiten verloren. Freiheit ist aber nicht nur eine ideelle, sondern auch eine praktische Frage. Denn solange Putin uns das Gas abdrehen kann, ist unsere Freiheit eingeschränkt.

Viele Österreicher sehen unsere Freiheit nicht von Putin oder vom Islamismus bedroht, sondern von Brüssel.

Das sehen auch in Frankreich viele so. Immer wenn man die echte Bedrohung nicht sieht, glaubt man an andere Bedrohungen. De Gaulle hat einmal gesagt, die Franzosen kann man nur energisch machen, wenn sie frieren. Erst wenn schlimme Ereignisse eingetreten sind, dann wird reagiert. Die Aufgabe der Medien, der Intellektuellen ist es aber, alle schlimmen Sachen zu denken, noch bevor sie Wirklichkeit geworden sind. Bei Hitler taten sie das zu spät. Es gibt ein Verbrechen, das schlimmer ist als Hitlerismus und andere: das Verbrechen der Gleichgültigkeit. Die Fähigkeit wegzuschauen, wenn etwas Gefährliches weit weg passiert. Das Verbrechen der Gleichgültigkeit ist die größte Krankheit des heutigen Europa.

Ist es immer Gleichgültigkeit, nicht auch schlicht Unwissen?

Beim letzten Genozid im 20. Jahrhundert, in Ruanda 1994, haben alle davon gewusst. Der UNO-Generalsekretär hat ein Fax verschickt mit der Aussage, dass mit 5000 schwer bewaffneten Blauhelmen alles gestoppt werden könnte. Aber niemand hat reagiert oder gehandelt - oder doch: Frankreich hat etwas getan, aber auf der falschen Seite. Das war noch schlimmer. Daher konnten in drei Monaten eine Million Tutsi getötet werden. Das heißt 10.000 pro Tag! Die Gleichgütigkeit ist die Vorbedingung alles Furchtbaren. Auch Geschehnisse, die uns scheinbar nichts angehen, haben direkte Konsequenzen für uns. Wir können nicht sagen, das sind nur kleine Kämpfe an der Peripherie, aber wir haben unsere Ruhe. Das ist nicht nur unmoralisch, sondern auch unrealistisch und blöd. Das Talent zur Gleichgültigkeit ist sehr gefährlich, in Europa aber leider vorherrschend.

Welche österreichischen Philosophen fallen Ihnen ganz spontan ein?

Literatur ist sehr wichtig für mich, Karl Kraus, Robert Musil, Hermann Broch zum Beispiel. Ich unterscheide nicht wirklich zwischen Philosophie und Literatur. Ist etwa Musil nur Literatur und keine Philosophie? Doch, Musil ist Philosophie!

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+++ Zur Person

André Glucksmann wurde 1937 als Sohn österreichisch-jüdischer Emigranten in Frankreich geboren. Seiner mutigen Mutter verdankt Glucksmann sein Überleben. Die doppelte Identität, die ihn als Kind gerettet hat, wird ihm zum existenziellen Problem: "Ich erlitt einen Identitätsverlust, bevor ich überhaupt meine Identität finden konnte."

Im Alter von zehn Jahren bleibt er allein in Frankreich zurück, als die verwitwete Mutter und seine Schwestern nach Wien gehen. 1967 wird er mit seiner "Abhandlung über den Krieg" als Philosoph bekannt. Er ist Kommunist und einer der Wortführer des Mai 68. Doch schon bald rechnet er mit allen Totalitarismen ab - unter dem Einfluss der russischen Dissidenten, vor allem Solschenizyns, wird er zum flammenden Antikommunisten ("Die Köchin und der Menschenfresser").

Auch mit den großen das Denken und Ideologien prägenden Philosophen der Vergangenheit rechnet er ab ("Die Meisterdenker"). Besonders engagiert sich Glucksmann für die Charta 77-Bewegung, sein Naheverhältnis zu Václav Havel stammt aus dieser Zeit. André Glucksmann setzt sich aber nicht nur schreibend für die Unterdrückten ein. Seine Reisen nach Tschetschenien oder in den Irak veranlassen ihn, auch als Augenzeuge Stellung zu beziehen. Auch seine Fähigkeit, frühere Überzeugungen und als fehlerhaft erkanntes Denken zu revidieren, ist bemerkenswert.

Seine jüngst erschienenen Erinnerungen "Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens" sind eine spannende Reise durch eine bewegte Gedankenwelt.