Der Psychologe und Buchautor Andreas Kumpf über die Fähigkeit, Augenblicke einfach zuzulassen und bewusst zu erleben - und andere Faktoren, die ein glückliches Leben im Alter fördern.
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"Wiener Zeitung":
Herr Kumpf, Sie haben im Rahmen der Recherche zu Ihrem Buch "Glück im Alter" Gespräche mit 21 Menschen im Alter von 65 bis 95 Jahren geführt, die sich ihrer eigenen Einschätzung nach als glücklich bezeichnen. Mein Eindruck beim Lesen der Interviews war, dass Glück im Alter weniger eine Glückssache, sondern vielmehr Resultat eines lebenslangen Lernens und gezielten Handelns ist.Andreas Kumpf: Genau. Im Grunde genommen hat man es spätestens ab der Lebensmitte selbst in der Hand, in welche Richtung man sein Leben steuert. Also zu einem Zeitpunkt, wo der Wechsel - bei Männern wie Frauen - einsetzt und die hormonelle ebenso wie die körperliche Veränderung im Regelfall dazu führen, dass man sein Lebenskonzept neu überdenken muss. Auslöser hierfür ist zumeist die Einsicht, dass man nicht mehr so fit ist wie früher. Auch die Empfindungen verändern sich hormonell bedingt. Leider begeben sich viele Menschen dann in ein Jammertal und betrachten das ganze Leben größtenteils nur noch als einen steten Abwärtstrend. Anstatt es genau andersherrum zu sehen und diese Situation als Chance zu begreifen.
Auch die Forschung ist sich weitgehend darüber einig, dass das Wohlbefinden - durchschnittlich betrachtet - von Mitte bis Ende 40 auf einen Tiefpunkt absackt. Danach geht es dann allerdings wieder aufwärts. Im Allgemeinen sind Menschen ab 65 dann wieder ähnlich glücklich wie 30-Jährige. Woran liegt das?In unserer Leistungsgesellschaft wird gerade von jüngeren Menschen erwartet, dass sie rund um die Uhr gute Resultate erbringen. Sowohl in beruflicher wie in privater Hinsicht. Da bleibt kaum Platz für Selbstreflexion und Glück. Die Konsequenzen hieraus sind psychische Erschöpfungszustände, Depression und Burn-out. Ganz anders verläuft hingegen die Entwicklung bei älteren Menschen. Hier kann man von einer Entschleunigung sprechen, die ihrerseits zu einer anderen Fokussierung der Wahrnehmung führt.
Was darf man sich darunter konkret vorstellen?
Aufgrund der Tatsache, dass nicht nur der Bewegungsapparat und die Organsysteme inflexibler werden, sondern auch die Leistungsfähigkeit der Wahrnehmungsorgane eingeschränkt wird, kommt es zu einer Verlangsamung der Wahrnehmungsgeschwindigkeit. Dadurch ändert sich auch der Aufmerksamkeitsfokus auf Dinge, die uns umgeben. Ein älterer Mensch kann sich viel mehr dem Augenblick hingeben, beispielsweise beobachten, wie sich ein Blatt vom Baum löst und windbewegt zu Boden gleitet. Das kann bei Älteren ein ruhiges Glücksgefühl hervorrufen. Jüngere Menschen würden das fallende Blatt gar nicht wahrnehmen.
Mehr Zeit zu haben, um Wahrnehmungen stärker ins Bewusstsein sickern zu lassen, kann somit zu einem Glücksfaktor des Alters werden!?
Ja, da solche Augenblickswahrnehmungen stärker im Bewusstsein Verankerung finden und für eine neue Form von Zufriedenheit sorgen. Auch werden Statussymbole von früher, die oft nur Glückssubstitute sind, unwichtig. Ein 30-Jähriger, der seine Karriere aufbaut, viel Geld verdienen möchte und nach gesellschaftlichem Applaus strebt, findet seine Glücksgefühle in einem Karrieresprung, einer Gehaltserhöhung oder einem tollen Auto. Bei älteren Menschen verändert sich die Wertigkeit dieser Statussymbole. Dafür werden soziale Beziehungen, der Wert von Freundschaften oder eben auch die Fähigkeit zu ruhigen Betrachtungen wichtiger.
Das Glück im Alter ist Ihrer Einschätzung nach somit eher ein stilles?
Ja, das Glück im Alter ist wohl ein stilleres, entschleunigtes Glück. In meinem Buch sind beispielsweise zwei Imker vertreten. Deren Arbeit mit Bienen ist ruhig, konzentriert, bedächtig. Sehr beeindruckt hat mich auch der Ausspruch eines Ehepaars: "So viel kann es gar nicht regnen, um einen schönen Tag kaputt zu machen". Diese Fähigkeit, den Augenblick einfach zuzulassen und bewusst zu erleben, ist in diesem Zusammenhang sicher eine entscheidende Komponente.
Was zur Frage führt, ob Glück im Alter bis zu einem gewissen Grad auch erlernbar ist?
Das hängt in erster Linie von der fundamentalen Fähigkeit zur Selbstreflexion ab. Ist man in der Lage, sein Leben kritisch zu betrachten? Ist man bereit zu lernen? Sieht man nur den mühsamen Prozess einer bestimmten Aktivität - oder kann man sich schon im Zuge dieser Tätigkeit auf das Ergebnis freuen? Es geht um die Fähigkeit, Freude erleben zu können. Noch stärker ist wohl die Kraft der Erinnerung, die dafür verantwortlich ist, dass man sich vergangene Leistungen oder Glücksituationen jederzeit vor sein geistiges Auge holen kann. Ein universales Rezept für Glück gibt es zum Glück nicht. Was allerdings erlernbar ist, und dem Glücklichsein zuträglich sein kann, ist ein gutes Maß an Selbstreflexion, um aktiv tätig werden zu können.
Wie könnte dieses Maß an Selbstreflexion aussehen?
Hilfreich ist in erster Linie der Austausch mit guten Freunden, die unterstützend wirken können, aus der Inaktivität herauszukommen. Dies ist gerade im Alter wichtig, da es Tendenzen zur Vereinsamung und Passivität gibt. Einerseits helfen Freundschaften, um einen kritischen Spiegel vorgehalten zu bekommen - andererseits, um neue Gedanken und Erinnerungen auszutauschen.
Der Blick zurück ist bekanntermaßen oft romantisch verklärt. Es ist kein Geheimnis, dass gerade im Alter gerne Stroh zu Gold gesponnen wird.
Das ist auch wunderbar so! Damit können aus halb-leeren wieder halb-volle Gläser werden - und aus einem einfachen Geburtstagsessen ein berauschendes Fest.
Individuelles Glücksempfinden hängt wohl auch vom Anspruchsniveau der eigenen Erwartungen ab, die sich im Laufe des Lebens verändern.
Dennoch gibt es Themen, die sich durch das ganze Leben ziehen. Fragen wie: Bin ich eine gute Mutter, ein guter Freund, ein guter Ehemann? Wie sehen meine Wünsche aus? Habe ich meine Ziele erreicht? Die Beantwortung von zentralen Lebensthemen sollte meiner Ansicht nach nie durch den Vergleich mit Anderen erfolgen. Zielführender ist die Beantwortung der Frage: Bin ich heute besser als gestern? Bin ich heute weniger aufbrausend, höre ich meinem Partner besser zu, wenn er mir etwas erzählt? Der Bezug auf das eigene Sein setzt Zeichen für den richtigen Weg zu einem erfüllten Leben. Und dafür ist die Selbstreflexion sehr wichtig.
Gilt dieser Leitsatz auch für einen 80-Jährigen?
Ja, durchaus. Das eigene Leben birgt unendlich viele Abenteuer und Potenziale, auch wenn es im Alter viele Einschränkungen gibt. Ein Schlüssel zum Glück liegt im aktiv sein. Und dafür ist man nie zu alt.
Sich zeitgerecht mit dem Thema des Älterwerdens zu befassen, und somit auch mit der Frage einer adäquaten Freizeitgestaltung, wäre also empfehlenswert?
Absolut. Heute hat man als 60-Jähriger - bei guter Gesundheit - noch ein Potenzial von rund 20 Jahren vor sich. Die heutigen "jungen Alten" sind in der Regel finanziell gut abgesichert, keinen Rollenerwartungen durch den Beruf ausgesetzt und auch die sozialen Zwänge sind - im Vergleich zu früher - weitaus geringer. Ältere Menschen können sich den unterschiedlichsten Aktivitäten weitaus befreiter hingeben. Sie können Lebensbereiche neu erfinden, ob als Hobby-Koch, Gärtner, guter Liebhaber oder als Weltenbummler.
Diese neue Freiheit gilt es bewusst zu planen und zu leben. Dennoch wissen viele Menschen mit ihrer neuen Freizeit nicht viel anzufangen, sitzen stattdessen die meiste Zeit vor dem Fernseher und warten ab. Dieses passive Warten ist das Gegenteil von Glück.
Gibt es Ihrer Ansicht nach einen Zusammenhang von Glück im Alter und der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Tod?
Alle Menschen, mit denen ich im Rahmen meines Buchprojekts gesprochen habe, ließen durchblicken, dass sie auf Grund ihrer glücklichen Gestimmtheit entspannter von dieser Welt scheiden können. Oft fielen Sätze wie: "Ach was, ich brauche nicht 100 zu werden, ich habe glückliche Jahre erlebt!" Es scheint einen Zusammenhang zu geben zwischen einer glücklichen letzten Lebensphase und einem leichteren Hinnehmen der eigenen Endlichkeit.
Christine Dobretsberger, 1968 in Wien geboren, ist freie Journalistin und Autorin, und seit 2005 Geschäftsführerin der Text- und Grafikagentur "Lineaart".
Zur PersonAndreas Kumpf studierte an der Ruhr-Universität Bochum Psychologie. Nach fast 20-jähriger Geschäftsführung eines international tätigen Beratungsunternehmens zog es ihn wieder zu seinen Wurzeln zurück. Er ist Gründungsmitglied eines außeruniversitären Forschungsinstituts in Graz. Er lebt in Baden bei Wien und untersucht jene psychologischen Faktoren, die für ein "gelungenes Leben", insbesondere für erfolgreiches und zufriedenes Altern ausschlaggebend sind.
Andreas Kumpf: Glück im Alter. Besuch bei 21 glücklichen Menschen im Alter von 65 bis 95 Jahren. Verlag Anton Pustet 2012, 160 Seiten, 25,- Euro.