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Angela allein zu Haus

Von WZ-Korrespondent Markus Kauffmann

Europaarchiv

Geplante große Koalition wackelt. | Merkel zwischen den Stühlen. | Berlin. Nachdem SPD-Vorsitzender Franz Müntefering am Montag seinen Rücktritt erklärt hatte, will sich nun offenbar auch CSU-Chef Edmund Stoiber nicht mehr an dem Kabinett Merkel beteiligen. Eine Woche vor den geplanten Abschlussverhandlungen über eine große Koalition ist das Rennen um eine neue Bundesregierung wieder offen.


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Am Montag platzte Bombe Nr. eins: Nach einer schweren Abstimmungsniederlage im Parteivorstand erklärt Müntefering, er wolle beim Parteitag am 14. November nicht mehr für den Vorsitz kandidieren. Das Leitungsgremium hatte seinen Vertrauten Kajo Wasserhövel nicht für das Amt des Generalsekretärs gekürt, sondern stattdessen Andrea Nahles vom linken Parteiflügel nominiert. Daraufhin gab Müntefering seinen Amtsverzicht bekannt und stürzte damit die SPD in eine der tiefsten Krisen ihres Bestehens.

Gestern, Dienstag, detonierte der zweite Sprengsatz, als bekannt wurde, dass sich nun auch Stoiber zurückziehen und nicht mehr für ein Ministeramt zur Verfügung stehen werde. Er begründete seinen nicht minder spektakulären Schritt einerseits mit dem Wegbrechen der "Säule" Müntefering, mit dem Stoiber ein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis aufgebaut hatte, sondern auch mit dem zu erwartenden Linksruck in der SPD. Er sei, sagt man, auch verärgert gewesen, dass der Zuschnitt seines Wirtschaftsministeriums nicht wie vereinbart erfolgt sei.

Während Stoiber mit seinem "Rückzug in die Berge" einen innerparteilichen Konflikt zwischen seinen potenziellen Nachfolgern vorerst vertagt, reißt Müntefering mit seinem Abgang den inneren Graben zwischen den Flügeln der Sozialdemokratie auf, der durch den Wahlkampf kurzfristig verdeckt war.

Formell gehen die Koalitionsverhandlungen weiter und am Fahrplan wird vorerst nicht gerüttelt: Noch ist Müntefering Verhandlungsführer für die SPD. Und er steht auch als Vizekanzler und Arbeitsminister bereit, berichtete der stellvertretende SPD-Chef Kurt Beck am Dienstag. Müntefering-Sprecher Lars Kühn relativierte: Zuerst müsse der Parteitag den Koalitionsvertrag annehmen und Müntefering den Auftrag erteilen, ins Kabinett einzutreten. Als Nachfolger für Stoiber als Minister für Wirtschaft und Technologie ist CSU-Landesgruppenchef Michael Glos vorgesehen.

Die Leidtragende heißt Angela Merkel

Doch politisch gesehen sind beide Rücktritte ein schwerer Schlag für Angela Merkel. Es ist völlig ungewiss, wer sich als Nachfolger Münteferings durchsetzen wird, sie kennt also ihren künftigen Counterpart nicht. Und es ist nicht auszuschließen, dass in der SPD Kräfte die Oberhand gewinnen, die im Grunde ihres Herzens die große Koalition nicht wollen. Ein Edmund Stoiber, der nicht in die Kabinettsdisziplin eingebunden ist, kann ihr als Regierungschefin in Berlin von München aus jederzeit die Hölle heiß machen, wie schon Helmut Kohl von Franz-Josef Strauß lernen musste.

Dennoch gehen die Polit-Analytiker immer noch davon aus, dass die große Koalition mit Ach und Krach Mitte November zustande kommen könnte, weil keine der Alternativen wirklich "reasonable" wäre. Selbst eine nach links gerutschte SPD müsste dabei noch am wenigsten Federn lassen. Aber die ohnehin schon schwierige Rolle Merkels wird zwischen einer in sich gespaltenen SPD auf der einen und einer kampflustigen Bayernpartei auf der anderen erheblich härter.

Zerzaustes Ressort, Münchner Streithanseln

Nach Lesart der CSU war Stoiber ein "Bilderbuch-Ressort" zugesagt worden, das nicht nur die Wirtschaftspolitik umfasst hätte, sondern auch den wirtschaftsrelevanten Teil der Europapolitik sowie die gesamte moderne Technologie einschließlich der zugehörigen Forschung. Mit einem Wort: Ein Zukunftsministerium. Dafür hätten etliche Ministerien Zuständigkeiten abgeben müssen. Vor allem um die Forschung gab es Gezerre mit Annette Schavan (CDU), einer engen Vertrauten Merkels und designierter Bildungsministerin. Stoiber soll maßlos enttäuscht gewesen sein, dass sich Merkel in diesem Konflikt nicht deutlicher hinter ihn gestellt habe, ja dass es überhaupt zu dem Konflikt gekommen sei.

An der Heimatfront war indes ein Diadochenkampf zwischen dem Chef der Münchner Staatskanzlei Erwin Huber und Innenminister Günther Beckstein um die Stoiber-Nachfolge entbrannt. Wenn Stoiber in München bleibt, müssen die Streithanseln halt noch "a wengerl" warten. Und zu guter Letzt erspart sich Stoiber auch die Kritik aus der Heimat, wenn er nun nicht den eisernen Sparkurs der Bundesregierung mitverantworten muss.

"Zum Einstand die

SPD enthauptet"

Andrea Nahles, 35, bis vor kurzem Juso-Vorsitzende, gilt als besonders ehrgeizige junge Politikerin. Die Jungen und die Linken in der Partei kamen sich bei der Postenvergabe in der Koalition vernachlässigt vor und forderten ein repräsentatives Amt für einen oder eine der ihren. Eine der beiden, für Frauen reservierten Stellvertreterinnen-Posten wäre dafür recht gewesen. Doch dann hätte Heidemarie Wieczorek-Zeul, 63, das Feld räumen müssen. Um das zu verhindern, schlug sie der jüngeren Konkurrentin vor, für das Amt des Generalsekretärs zu kandidieren.

Die Zahl der Linken allein hätte dazu nicht ausgereicht. Da kam es der "roten Heidi", wie die Entwicklungshilfeministerin genannt wird, zupass, dass sich mehrere Interessen verbinden ließen: Wachsende Kritik am "autoritären Führungsstil" Münteferings und an seinen Alleingängen, zu wenig Beachtung des Parteinachwuchses und die Angst vor einem weiteren, ungehinderten Abdriften der SPD in Richtung Agenda 2010, große Koalition, Neo-Liberalismus. Eine linke Generalsekretärin, die ihr Amt nicht nur organisatorisch, sondern vor allem politisch interpretiert, könnte diesen Tendenzen einen Riegel vorschieben.

Der Coup gelang, Nahles wurde mit einem Ergebnis von 23 zu 14 klar bevorzugt, "Münte" konnte nur noch feststellen, dass ihm zwei Drittel des eigenen Vorstands in einer wichtigen Personalie die Gefolgschaft verweigern. "Der Ehrgeiz einzelner rangierte vor der Verantwortung für das Ganze", kommentierte Noch-Kanzler Schröder.

Kommt am Ende doch die Linkskoalition?

Trotz gegenteiliger Beteuerung, man wolle die große Koalition mit voller Kraft einläuten, hat der Wegfall zweier von drei ihrer Säulen die gesamte Architektur ins Wanken gebracht. Merkel, Stoiber und Müntefering wären als Vorsitzende der beteiligten Parteien das Fundament der großen Koalition gewesen und hätten ihr das erforderliche Gewicht verliehen.

Ein Linksruck in der SPD könnte dazu führen, dass für die Union unzumutbare Nachforderungen gestellt werden oder dass das Regierungshandeln immer wieder durch Querschüsse aus den Reihen des Koalitionspartners oder der CSU behindert wird. Schlechte Karten also für Merkel.

Schon bietet sich Westerwelle erneut als Partner einer "Jamaika-Ampel" an, wird aber (noch?) von den Grünen schnöde abgewiesen.

Im äußersten Falle könnten sich jene Kräfte in der SPD durchsetzen, die von einer "Mehrheit links von der Union" sprechen. Ohne Müntefering gäbe es in der SPD-Führung auch nicht mehr so starken Widerstand gegen Lafontaine oder Gysi. Sollte es auf diesem Weg doch noch zu einer Duldung eines rot-grünen Bündnisses durch die Linke/PDS oder gar zu einer rot-grün-roten Dreierkoalition kommen? Dann wäre der Coup vom Montag Teil einer großangelegten Strategie gewesen . . .