Premier Brown kritisiert Vorstoß. | Erzbischof verweist auf Status quo. | London. (dpa) "Welcher dieser Männer", fragte die Zeitung "Daily Mail", "ist die größere Gefahr für Großbritannien?" Daneben stellte sie am Freitag in ihrer Online-Ausgabe zwei Fotos: Auf dem einen war der in Haft befindliche Londoner Hassprediger Abu Hamza zu sehen, der in Kürze an die USA ausgeliefert wird. Das andere zeigte den anglikanischen Primas und Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, das geistliche Oberhaupt der Kirche von England und von weltweit rund 80 Millionen anglikanischen Gläubigen.
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Selbst für das traditionell raue Klima im britischen Blätterwald mag die Zuspitzung gewagt sein, doch sie reflektiert einen realen Sturm der Entrüstung. Ausgelöst hat ihn der Primas mit einem Interview für das Radioprogramm BBC4.
Dabei schlug Williams vor, Teile der islamischen Scharia-Gesetzgebung speziell für Muslime in die britische Zivilrechtsprechung aufzunehmen. Zur Begründung verwies er darauf, dass "gewisse Regelungen der Scharia in unserer Gesellschaft doch praktisch sowieso schon akzeptiert sind". Das war ein Stich ins politische Wespennest. Dabei hat Williams mit seiner Beschreibung des Status quo gar nicht Unrecht. Viele muslimische Gemeinden im Vereinigten Königreich haben längst kleine Scharia-Gerichtshöfe. Ähnlich wie Amateur-Gerichte orthodoxer Juden werden sie geduldet - solange niemand verlangt, dass ein weltliches Gericht ihre Entscheidungen anerkennt.
Anders als Teile der Boulevardpresse nun suggerieren, wird von den inoffiziellen Scharia-Gerichten niemand mit Auspeitschung oder dem Abhacken der Hände bestraft. Es geht meist um Besitz- und andere zivilrechtliche Streitigkeiten - wenngleich auch Scheidungsbegehren behandelt und dabei Frauen offenkundig benachteiligt werden. Solange dies unter dem Deckel gehalten wurde, konnten die Briten als Verfechter des gesunden Menschenverstandes gut damit leben. Schließlich machen die rund 1,7 Millionen Muslime weniger als drei Prozent der Bevölkerung aus. Und die meisten von ihnen, darauf machte der Rat Britischer Muslime aufmerksam, "respektieren Recht und Gesetz Großbritanniens ohne Einschränkungen".
Nun trifft die Wucht der öffentlichen Kritik ausgerechnet einen christlichen Kirchenführer, der sich schon lange für einen konstruktiven Dialog zwischen beiden Religionen einsetzt. Immer wieder hat er zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Islam aufgerufen. Seine respektvollen Äußerungen über Muslime stehen im Gegensatz etwa zur Aufgeregtheit des aus Pakistan stammenden Anglikaner-Bischofs von Rochester, Michael Nazir-Ali. Dieser hatte kürzlich mit der Warnung für Aufsehen gesorgt, in Großbritannien entwickelten sich Wohngebiete von Muslimen zu "gefährlichen No-Go-Zonen" für Andersgläubige.
Die Al-Kaida-Keule
Dennoch scheint der Erzbischof von Canterbury den Bogen überspannt zu haben. Von Premierminister Gordon Brown bis zu Oppositions-Hinterbänklern reichte am Freitag die Front der Ablehnung. Brown betonte, dass "britische Gesetzgebung stets auf britischen Werten" zu beruhen habe, der Leiter der staatlichen Menschenrechtskommission nannte den Vorstoß des Primas "gefährlich". Und das Boulevardblatt "The Sun" rückte Williams gar in die Nähe islamischer Terroristen: "Der Erzbischof von Canterbury hat Al-Kaida einen Sieg beschert", hieß es dort. Seite 12