81 türkische Wissenschafter in Österreich könnten von Erdogans Feldzug gegen Kritiker betroffen sein.
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Wien/Ankara. Es scheint, als wären in der Türkei alle Dämme gebrochen. Neben neuen Entlassungswellen am Mittwoch hat auch die türkische Hochschulverwaltung allen Akademikern und Staatsbediensteten bis auf Weiteres die Ausreise verboten. Außerdem ordnete der Hochschulrat die Entlassung von 1577 Dekanen an, denen eine Nähe zu Recep Tayyip Erdogans Erzfeind, Fethullah Gülen, nachgesagt wird. 15.200 Lehrende an den Unis wurden suspendiert.
Mehrere Medien berichteten, dass die Behörde in einer Mitteilung an die Hochschulen in der Türkei verlangt habe, dass alle derzeit im Ausland arbeitenden Wissenschafter zurückgerufen werden müssten - außer ihre Arbeit sei "absolut notwendig". Die European University Association EUA und die Österreichische Universitätenkonferenz Uniko haben diese Pläne am Mittwoch in Aussendungen scharf verurteilt, auch Wissenschaftsminister Reinhold Mitterlehner (ÖVP) erklärte, der gescheiterte Putschversuch dürfe "kein Freibrief für Willkür und das Aushebeln des Rechtsstaates sein".
Gerade die Universitäten seien ein Ort für geistige Auseinandersetzung, Toleranz und Freiheit, Wissenschaft und Forschung würden vom internationalen und interdisziplinären Austausch leben, so Mitterlehner.
Die Maßnahmen in der Türkei könnten auch Auswirkungen auf in Österreich lebende Wissenschafter haben. Laut Wissenschaftsministerium arbeiten an den 21 österreichischen Universitäten insgesamt 81 Türken, dabei handelt es sich in erster Linie um Universitätsassistenten und Projektmitarbeiter. An der Wiener Wirtschaftsuni sind derzeit fünf wissenschaftliche Mitarbeiter mit türkischer Staatsbürgerschaft tätig. "Die WU wird die betroffenen Personen selbstverständlich bestmöglich unterstützen", heißt es dort. Laut Österreichischem Austauschdienst sind heuer außerdem drei Personen aus der Türkei über Stipendienprogramme an Österreichs Hochschulen tätig.
An insgesamt 52 Projekten des EU-Forschungsprogramms Horizon 2020 sind türkische und österreichische Organisationen gemeinsam beteiligt - mit einem Fördervolumen von 29,6 Millionen (österreichische Partner) beziehungsweise 18,1 Millionen Euro (türkische Partner). Wie viele von den Projektteilnehmern sich gerade in Österreich befinden, ist allerdings unklar.
Fast 4000 Studierende anUnis und Fachhochschulen
Heikel könnte es werden, wenn auch Studierende von den Maßnahmen der Erdogan-Regierung betroffen wären: Ende Februar waren 3551 türkische Studierende an den Universitäten und 119 an den Fachhochschulen eingeschrieben. An der Uni Wien, wo der Vorsitzende des Expertenrats für Integration, Heinz Fassmann, als Vizerektor für Lehre tätig ist, stellen die Studierenden aus der Türkei die drittgrößte Gruppe ausländischer Studierender nach Deutschland und Italien dar. "Wir haben viel weniger türkische Lehrende da und mit manchen hätte Erdogan auch keine Freude", meint Fassmann.
Er sieht auch die Gefahr, dass mit den Aktionen gegen Akademiker in der Türkei ein Brain Drain in dem Land einsetzen wird. Diese Abwanderung von Hochqualifizierten, hat laut dem Politikwissenschafter und Nahost-Experten Cengiz Günay längst eingesetzt. "Gut ausgebildete Menschen wollen eher nicht unter einem autoritären Regime leben", sagt er der "Wiener Zeitung".
Flüchtlinge aus derTürkei erwartet
Wenn die "Hexenjagd", die nun gegen unliebsame Kritiker begonnen wurde, wie Günay meint, nicht bald zu Ende geht und sich die Lage beruhigt, könnte eine Reihe von Menschen die Türkei verlassen.
Generell könnten die Flüchtlingszahlen aus der Türkei steigen. Nicht nur die Angehörigen von Minderheiten wie Kurden, Aleviten, Armenier oder Christen könnten aus dem Land Erdogans fliehen, sondern auch eben jene Personen, gegen die der Präsident jetzt mit aller Gewalt vorgeht.
Denn eine Verfolgung aufgrund einer unterstellten politischen Gesinnung ist "ein klarer Fall für einen Fluchtgrund nach der Genfer Flüchtlingskonvention", sagt Anny Knapp von der Asylkoordination. In den vergangenen Monaten sei die Zahl der Schutzsuchenden aus der Türkei in Österreich trotz der kriegerischen Auseinandersetzungen in den Kurdengebieten nicht angestiegen. Das habe aber auch damit zu tun, dass in der bisherigen Asylrechtsprechung die innerstaatliche Fluchtalternative immer eine große Rolle gespielt hat. Sprich: Die Behörden gingen davon aus, dass es auch innerhalb der Türkei ausreichend Fluchtmöglichkeiten gab. Doch mit den großflächigen Entlassungen und Verhaftungen im ganzen Land fällt diese Alternative wohl weg - und die Zahl der in Österreich Schutzsuchenden wird ansteigen.
Im Innenministerium gibt man sich noch abwartend. Man müsse die Lage analysieren und im Auge behalten, wie sich diese entwickelt. Sollte sie sich dahingehend entwickeln, dass die Repressalien gegen Erdogan-Kritiker und Minderheiten weitergehen und sich gar verschärfen, muss aber wohl ganz Europa mit neuen Flüchtlingen, und zwar aus der Türkei, rechnen. Diese würde es dann aufgrund bestehender Familienbande auch verstärkt nach Österreich und Deutschland ziehen.
Flüchtlingsdealmit der Türkei wackelt
Mit den jüngsten Ausschreitungen wackelt auch der Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei. Einerseits sollen in den vergangenen Tagen mehr Flüchtlinge aus der Türkei in die angrenzenden EU-Länder Griechenland und Bulgarien eingereist sein. Anderseits muss die Türkei auch als Partnerland, in das man Flüchtlinge wieder zurückschicken kann, infrage gestellt werden.
Unterdessen sorgen die "spontanen" Pro-Erdogan-Demonstrationen von Wiener Türken in der Nacht auf Samstag und am Samstagnachmittag - bei letzterer wurde auch das Restaurant eines Kurden auf der Mariahilfer Straße demoliert - für politische Nachwehen.
Kanzler Christian Kern (SPÖ) trifft sich am Donnerstag zu einer Aussprache mit Vertretern der islamischen Glaubensgemeinschaft. In den "Vorarlberger Nachrichten" kündigte er an, über Grenzüberschreitungen wie den türkisch-nationalistischen "Wolfsgruß" und den Angriff auf das Wiener Lokal sprechen zu wollen: "Wir müssen erklären, dass solche Phänomene den Interessen der türkischen Mitbürger massiv schaden." Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) überlegt gar, sich den gesetzlichen Rahmen für das Versammlungsrecht "genau anzuschauen". Auch Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) will bei unangemeldeten Demonstrationen wie jenen vom Wochenende stärkere Einschränkungen überlegen.
Der Präsident der islamischen Glaubensgemeinschaft, Ibrahim Olgun, verteidigt indes die Demonstrationen. "Gehört es nicht zu den Bürgerrechten in diesem Land, auf die Straße gehen zu können und friedlich zu demonstrieren? Darf man das nicht? Auch Türken dürfen in Wien demonstrieren", sagte Olgun im "Standard".
Hakan Gördü, stellvertretender Vorsitzender der der AKP-nahen "Union europäisch-türkischer Demokraten" (UETD), der am Dienstag in der ZiB2 noch die Demonstration verteidigt hatte, trat am Mittwoch zurück. Er meinte auf Facebook, er könne die Arbeit der UETD nicht mehr unterstützen "ohne Gesundheit, Arbeit und Familie zu verlieren".