Für Demokratie- bewegung kommen Wahlen zu früh. | Alte Eliten verfügen über bessere Strukturen. | Kairo/Wien. So einiges, was in Ägypten lange unverrückbar schien, gilt jetzt nicht mehr. Zwar lautet ein geflügeltes Wort: "Wir haben 7000 Jahre Geschichte - was sind da 100 Jahre?" Doch nach der Revolution, die das Regime von Ex-Präsident Hosni Mubarak wegfegte, scheint viele Ägypter ihre Geduld in politischen Dingen verlassen zu haben. In Kairo fanden sich am Freitag auf dem Tahrir-Platz wieder tausende Demonstranten ein, um den Rücktritt der erst kürzlich umgebildeten Übergangsregierung von Premier Ahmed Shafiq zu verlangen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 13 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Zwar feierte die Menge immer noch die Zusammengehörigkeit mit den Streitkräften und skandierte "das Volk und die Armee arbeiten Hand in Hand" und "Freiheit, Freiheit". Doch Antriebsfeder der Proteste ist die Angst vor einer "Konterrevolution": Die Furcht, dass die noch nicht abgetretenen alten Eliten des Mubarak-Regimes, wozu auch die Armee gehört, "uns eine Demokratie geben, die keine ist, eine Demokratie, in der die Leute lediglich wählen, aber nichts erreichen können", wie es ein Demonstrant, ein Ingenieur, ausdrückt.
"Ein wenig herrscht der Eindruck vor, dass sich wieder die alte Mubarak-Politik durchsetzt", sagt die ägyptische Politologin Hoda Salah, die in Berlin tätig ist. Sie beunruhigt vor allem die Tatsache, dass die Kommission, die eine neue Verfassung auszuarbeiten hat, von den alten Eliten dominiert ist: "Am Tahrir-Platz haben sich wirkliche Veränderungen vollzogen, auch was die Geschlechterrollen betrifft. Unter den zehn Leuten, die eine neue Verfassung ausarbeiten sollen, befindet sich freilich keine einzige Frau, wohl aber drei Muslimbrüder", sagte die Politikwissenschaftlerin bei einem Pressegespräch in Wien. Diese würden zwar auch für Demokratie und politische Ämter für Frauen eintreten, ihre "graue Zone" sei aber der Privatbereich, wo die Frau dem Mann untergeordnet sei.
Zu hohes Tempo?
Auch bei der Stellung von Christen, die eher als "Mitbürger" denn als vollberechtigte Bürger gesehen würden, tun sich laut Salah Probleme auf. Dass sich aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft für die in spätestens sechs Monaten stattfindenden Wahlen bereits drei gut organisierte Parteien gebildet haben, während sich die Jugendbewegung noch nicht organisiert hat, beunruhigt die Feministin.
Das hohe Transformationstempo - an diesem Samstag soll ein vom Militär eingesetztes Komitee von Juristen bereits einen ersten Verfassungsentwurf vorlegen - macht auch Cengiz Günay Sorgen. "Dass bereits in sechs Monaten Wahlen stattfinden, dass die Verfassung so rasch geändert werden soll - das sind kurze Zeiträume", sagt der Ägypten-Experte am Österreichischen Institut für internationale Politik. "Es gibt ja nicht einmal ein ordentliches Wählerverzeichnis, wahrscheinlich muss man noch eine Volkszählung machen." In jedem Fall komme das hohe Tempo den etablierten Kräften entgegen - also der Nationaldemokratischen Partei, die unter Mubarak dominierte, und den Muslimbrüdern. Die Jugendbewegung verfügt über keine Partei.
Noch herrscht Euphorie
Ein zusätzliches Problem stellt laut dem Wiener Politologen die Unbestimmtheit dessen dar, was mit dem Wort "Demokratie" in Verbindung gebracht wird: "Manche verknüpfen damit fast paradiesische Vorstellungen", so Günay, Wünsche nach wirtschaftlichem Wohlstand, die zumindest nicht rasch erfüllbar sind.
Noch aber herrscht in weiten Teilen Kairos der "Geist des Tahrir-Platzes": Die Menschen fegen "ihre" Plätze, säubern "ihre" Straßen selbst. Ein neuer Stolz macht sich breit. Besucher der Stadt bekommen von Passanten oft zugerufen: "Ägypten ist schön!"