Zum Hauptinhalt springen

Angst vor der Zange

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder aus Odessa

Politik

Nach einem Wochenende mit schweren Luftanschlägen auf Odessa, denen unter anderem ein Kleinkind zum Opfer fiel, wappnet sich die südwestukrainische Hafenstadt für ein neues Bedrohungsszenario.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die Einschläge waren mit Ankündigung gekommen, aber in dieser Härte und Intensität erwartet hatte sie tatsächlich wohl niemand. Als am Samstagnachmittag in Odessa die Sirenen einsetzten, die vor einem nahenden Angriff der russischen Luftstreitkräfte warnen, hatten sie viele seiner Bewohner nicht einmal mehr ignoriert. Ein Gewöhnungseffekt, der für die Situation vieler Orte in der südlichen und westlichen Ukraine im Frühjahr 2022 so typisch ist, wie er sich an diesem Wochenende als tödlich erwies. Zuerst ein lautes Pfeifen, dann ein gewaltiger Lärm vom Himmel, gefolgt von einem auch aus der Distanz wahrnehmbaren Geruch, der an verbranntes Plastik erinnert. Am Ende eine Explosion, deren Schockwellen in der halben Stadt den Boden beben und die Fenster zittern ließen.

Ein Angriff nach Schema

Angesichts der Konsequenzen konnte der Präsident der Ukraine ein paar Stunden später, als das ganze Ausmaß der Zerstörung klar geworden war, kaum mehr an sich halten. Mit nicht druckreifen Worten teilte Wolodymyr Selenskyj Russland im Rahmen einer Fernsehansprache mit, was er von den Leuten halte, die aus der sicheren Distanz des Kaspischen Meers sieben Raketen auf Odessa abgefeuert hatten. Laut russischen Angaben alles "hoch präzise" Waffen, die "allein auf militärische Ziele" gerichtet gewesen wären. In Odessa fielen diesen sogenannten hoch präzisen Waffen am Samstag acht Menschen zum Opfer. Darunter ein drei Monate altes Baby, seine Mutter und seine Großmutter. Der Vater überlebte, weil er gerade zum Einkaufen gegangen war. Als er aus dem um die Ecke liegenden Supermarkt zurückkam, lag die Wohnung, die er bis dahin mit seiner Familie bewohnte, in Schutt und Asche.

Ob der Angriff auf eine Wohnanlage in einem dicht besiedelten Vorort von Odessa absichtlich geschah oder nicht: Er passt auf jeden Fall ins Schema. Russlands Angriff auf die Ukraine hat in den ersten zwei Monaten eine derart hohe Anzahl ziviler Opfer gefordert, dass mittlerweile jeglicher Rest von Glaubwürdigkeit verloren ist, den Wohlmeinende dem Kreml bis zuletzt noch einräumten. Selenskyj brachte es in seiner Ansprache mit diesen Worten auf den Punkt: "Ein Baby? Wie hat sie (das Baby) Russland bedroht? Es scheint, als ob das Töten von Kleinkindern die neue nationale Idee der Russischen Föderation ist."

Das Gefühl, dass sich entlang der südlichen Küstenlinie der Ukraine langsam aber sicher etwas zusammen braut, hatte bereits zwei Tage vor den Luftschlägen vom Samstag eingesetzt. In einem von den russischen Staatsmedien in einer konzertierten Aktion verbreiteten Kommentar wurde Rustam Minnekayev, ein hochrangiges Mitglied des russischen Generalstabs, mit den Worten zitiert, dass Moskau nicht nur eine permanente Landbrücke zur Krim, sondern auch eine Verbindung zur abtrünnigen moldawischen Provinz Transnistrien anstrebe. Laut dem Generalmajor würde die dort lebende russisch-sprachige Minderheit angeblich ebenso "unterdrückt" wie jene im Donbas - eine im ersteren wie im letzteren Fall zu keinem Zeitpunkt einer faktischen Überprüfung standhaltende These.

Fragezeichen Transnistrien

Nachdem es von Odessa bis zur transnistrischen Grenze nur eineinhalb Stunden Autofahrt sind, fiel die Reaktion auf diese Botschaft in der Hafenstadt entsprechend aus. Angeführt von Bürgermeister Gennadi Trukhanov gelobten die lokalen politischen und militärischen Führer, dass sich "die Tore zur Hölle" öffnen würden, sollten es die Russen irgendwann tatsächlich auf eine Schlacht um Odessa ankommen lassen.

Auch wenn dieses Szenario nach wie vor als unwahrscheinlich gilt - die Stärke der russischen Truppen in der Moldau wird auf nur 1.500 Mann geschätzt und mit Stand heute reiben sich die in Kherson und bei Mikolaiv stehenden dort bis heute auf - bleibt dieses Bedrohungsszenario indes so aufrecht wie real. Dafür, dass es die Russen im Süden nicht gut sein lassen wollen, spricht auch die Tatsache, dass dort seit vergangener Woche Männer im wehrfähigen Alter unter Strafandrohung zum Dienst in Wladimir Putins Invasionsarmee vergattert werden.