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Angst vor Großrussland-Phantasien

Von Birgit Johannsmeier

Politik

1991 rollten Sowjetpanzer nach Riga - das Trauma sitzt bis heute tief.


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Welches Land ist das nächste? Letten protestieren in Riga lautstark gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine.
© reu/Kalnins

Riga. (n-ost) Von früh bis spät staut sich der Verkehr am Ufer des Daugava-Flusses im Zentrum von Riga. Neben den Wartenden erheben sich zwei riesige Bronzefiguren, die Kämpfer des Denkmals der Russischen Revolution von 1905. Diese Symbole russischer Geschichte sind in der lettischen Hauptstadt allgegenwärtig.

Dabei ist den Letten ihre Unabhängigkeit von Moskau, die sie vor 23 Jahren erkämpft haben, so wichtig. Deshalb beunruhigt die Krise in der Ukraine die Menschen in der ehemaligen Sowjetrepublik sehr. Mit Blumen protestieren sie vor der ukrainischen Botschaft gegen den Vormarsch russischer Truppen auf der Krim.

"Auch wir wurden 1991 von sowjetischen Panzern bedroht und setzten uns auf unseren Barrikaden zur Wehr", sagt eine Passantin, die am Zaun der Botschaft drei weiße Nelken befestigt hat. Aber jetzt fühle sie sich sicherer, weil Lettland in der EU und der Nato sei.

"Aber erinnern wir uns an 1940", wirft ein Mann ein. "Lettland war damals Mitglied im Völkerbund, und niemand hat den Hitler-Stalin-Pakt oder unsere Besatzung durch die Sowjetunion gestoppt. Die Geschichte könnte sich wiederholen."

Von der anderen Straßenseite schaut eine ältere Russin zu. Russland werde Lettland nicht angreifen, solange die Letten ihre russischen Mitbürger nicht bedrohen, sagt sie. "Auch in der Ukraine will die russische Armee doch nur die russische Minderheit schützen."

Eine geteilte Gesellschaft

In Lettland ist fast jeder Dritte russischer Herkunft. Die meisten wurden hier in der Sowjetära angesiedelt. Sie sollten die kleine Baltenrepublik politisch unterwandern und den Kommunismus einführen. Heute sei Lettland quasi eine zweigeteilte Gesellschaft, sagt der Soziologe Arnis Kaktins, mit lettischen und russischen Schulen, mit jeweils eigenen Theatern und eigenen Medien.

Kaktins verfolgt aufmerksam die Berichterstattung in Lettland. Während russischsprachige Zeitungen den Militäreinsatz auf der Krim loben, berichten lettische Medien von den Protesten gegen Putin in Riga. Russland spiele in Lettland immer noch eine ganz zentrale Rolle, sagt er.

"Die Russen hier im Land bewundern Wladimir Putin und lieben Russland." Sie hätten dort Freunde und Verwandte oder seien sogar im Land geboren. "Wir Letten hingegen unterstützen die Ukraine, denn wir haben aufgrund unserer traumatischen Geschichte große Angst vor Russland", sagt Kaktins.

Schutzmacht-Gehabe

Der Politikwissenschafter Andris Spruds wird in diesen Tagen ständig von lettischen Journalisten befragt. Er beobachtet mit Sorge den Aufmarsch russischer Soldaten auf der Krim und den Beschluss der Regierung in Simferopol, sich Russland anzuschließen. Natürlich habe Lettland als Mitglied von EU und Nato vorerst nichts zu befürchten, sagt Spruds. Vorausgesetzt allerdings, dass sich die Alliierten Putin entgegenstellen. "Auch in Lettland könnte jederzeit jemand die russische Fahne hissen und Russland bitten, die russische Minderheit zu verteidigen", warnt er. Wenn die Weltgemeinschaft Russlands Vorgehen auf der Krim tatenlos zusehe, würde das bedeuten, dass Russland in jedem Land die Russisch sprechenden Leute verteidigen dürfe. "Nach dem Motto: Niemand reagiert - also besetzen wir das nächste Land." Dass Moskau derzeit ein Gesetz erwägt, das russischsprachigen Bewohnern auf dem gesamten Gebiet der Ex-UdSSR den Zugang zur russischen Staatsbürgerschaft deutlich erleichtern soll, sehen viele Letten als Warnsignal. Das lettische Parlament ist besorgt. Es forderte nicht nur den Rückzug Russlands aus der Ukraine, sondern verlangte auch, dass europäische Beobachter die gesamte russische Grenze kontrollieren. Auch in Lettland.