Das Liberalisierungsfieber hat die EU erfasst. Während sich ein Teil damit beschäftigt, bestimmte Bereiche öffentlicher Dienstleistungen, wie die Trinkwasserversorgung, für den freien Wettbewerb freizugeben, plant ein anderer schon die totale Liberalisierung aller Dienstleistungen. Wie man ein Delirium vermeidet, wurde dieser Tage bei der Versammlung der Regionen Europas (VRE) in Wien diskutiert.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 19 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die Europäische Kommission will, dass bei Dienstleistungen von allgemeinem Interesse das Monopol der öffentlichen Hand fällt. Problematisch ist, dass diese Liberalisierung dem Subsidiaritätsprinzip der EU entgegensteht, die in Regionen erst dann bestimmen darf, wenn sie ihre Angelegenheiten nicht selbst regeln können. Die Regionen Europas wollen die von der Kommission geplante Liberalisierung verhindern.
Einen gemeinsamen Weg zu finden, ist schwer. Da auf EU-Ebene noch nicht definiert ist, was eine Dienstleistung von allgemeinem Interesse ist, streben französische Regionen Schadensbegrenzung über eine restriktive Begriffsbestimmung an. In Wien will man es hingegen gar nicht erst zu einer Definition kommen lassen und so einer Liberalisierung der Wasserversorgung beispielsweise entgegenwirken.
Die will Wirtschaftsminister Bartenstein gemeinsam mit ein paar anderen Bereichen von einer geplanten EU-Dienstleistungsrichtlinie im Binnenmarkt ausnehmen. Dafür sollen sämtliche anderen Dienstleistungen liberalisiert werden. Am Donnerstag haben entsprechende Verhandlungen begonnen.
Hauptproblempunkt ist dabei das so genannte Herkunftslandprinzip. Dadurch gilt für Dienstleister im Ausland das Recht ihres Heimatlandes. Ein portugiesischer Installateur in Österreich würde dann beispielsweise unter portugiesisches Recht fallen. Die Kommission erhofft sich davon einen Wirtschaftsschub. Bei den Regionen hingegen spricht man von Sozialdumping. Da Kontrollen des Tätigkeitslandes untersagt werden sollen, wäre es ein leichtes, strengere nationale Standards zu umgehen. Es wird befürchtet, dass das Herkunftsland kein Interesse und wohl kaum die Möglichkeit haben wird, diese Aufgabe wahrzunehmen. Gezielte Verlagerungen des Unternehmenssitzes oder Gründungen von Briefkastenfirmen wären vorhersehbar; ein Wettlauf nach unten um das weichste Unternehmensrecht die Folge.
Die Regionen zeigen sich darüber verärgert, dass die EU 25 parallel laufende Rechtssysteme schaffe, anstatt sich um Harmonisierung zu bemühen, was eher dem EU-Gedanken entspräche. Bartenstein hofft, dass die neue Richtlinie 2005 beschlossen wird. So könnte sie 2006 unter österreichischer EU-Präsidentschaft durchgesetzt werden.
Philippe Herzog, ehemaliger Berichterstatter des Europäischen Parlamentes, hat bei der VRE den Regionalpolitikern großes politisches Potenzial eingeräumt und gefordert, gegen die Pläne der Kommission Front zu machen. Bald wird sich weisen, ob das purer Zweckoptimismus war, oder ob ein Kompromiss zwischen einer Wettbewerbsgesellschaft und dem Allgemeininteresse gelingen kann.