Multikulturelle Tanzgruppe fördert Schulgemeinschaft. | "Unterschiede durch gemeinsame Aktionen überbrücken." | Wien. Damir tanzt den Moonwalk. Er besucht die erste Klasse der Kooperativen Mittelschule (KMS) Kinzerplatz in Wien-Floridsdorf. Neun Mädchen aus den vierten Klassen interpretieren mit ihm Michael Jacksons "Thriller". Das Video zu dem Lied kennen alle. Ausgesucht haben sie die Nummer, weil sie "ein bisschen gruselig" ist, erzählt die 15-jährige Büsra. Sie trägt wie drei andere Mädchen mit türkischen Wurzeln in dieser Tanzgruppe Kopftuch. Das ist hier allerdings kein Thema, betont ihre Freundin Sümeyye. Sie trage es ganz selbstverständlich. Sümeyye ist in der Türkei geboren und im Alter von sechs Jahren nach Wien gekommen.
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Die Zusammenarbeit zwischen erster und vierter Klasse hat hier System, erzählt Emina Petzer. Sie ist Klassenvorstand der Erstklässler, unterrichtet aber auch die Viertklässler. Die beiden Integrationsklassen, in denen auch Kinder mit Teilleistungsschwächen unterrichtet und in einem oder mehreren Gegenständen nach Sonderschullehrplan beurteilt werden, sind nebeneinander untergebracht, doch schon zu Beginn des Schuljahres zeigten sich Differenzen. Ein Kind aus der ersten Schulklasse landete im Mistkübel. Zeit, die Notbremse zu ziehen.
Petzer klinkte sich in das Programm "Interkulturalität und Mehrsprachigkeit" von Kulturkontakt Austria ein. Gemeinsam mit dem Klassenvorstand der vierten Klasse, Marianne Rohringer, sowie den Integrationslehrerinnen Birgit Harold, Christine Klammer und Gerlinde Primus schuf sie das Projekt "Rahmen".
"Rahmen" schafft eine Verbindung zwischen Erst- und Viertklässlern, zwischen Schülern, die aus verschiedenen Kulturen kommen. Ein Element: ein Mentorensystem. Dabei nehmen sich die Älteren der Jüngeren an. Ein anderes: die Neugestaltung des gemeinsamen Gangs. Die fleckige Wand wurde gemeinsam weiß gestrichen, nun zieren aufgeklebte Rahmen die Mauer und sorgen für Farbtupfer, die eine gemütliche Atmosphäre schaffen.
"Rahmen" ist aber noch mehr: Bearbeitet wurde von den beiden Klassen das Thema Angst. Was macht jedem Einzelnen Angst, lautete die Frage an die Kinder. Die Antworten waren höchst unterschiedlich, je nachdem, aus welchem Kulturkreis die Schüler kommen, aber auch, in welchem sozialen Umfeld sie aufwachsen. Die 11-jährige Jaqueline kommt von den Philippinen. Sie hat Angst vor Naturkatastrophen, erzählt Petzer. Ein österreichisches Mädchen, das in einem sozial schwierigen Umfeld aufwächst, hat Angst vor dem Gefängnis. Schüler, die aus ehemaligen Kriegsgebieten kommen, haben Angst vor Übersiedlungen. Oder sie fürchten sich vor Verlust: Ein Mädchen etwa schaut im Park immer ganz genau auf ihren Bruder, damit er nicht entführt wird.
Aus all den Antworten hat das Lehrerinnen-Team drei Punkte herausgefiltert, in denen sich alle Kinder wiederfinden: die Angst, jemanden zu verlieren; die Furcht vor Schlangen und Spinnen; und die Angst vor dem Tod. All das haben die Schüler auch aufgezeichnet, im Anschluss hat die Künstlerin Susanne Praglowski die Kunstwerke in einem Trickfilm animiert, die Ängste quasi zum Leben erweckt. Zu Halloween brachte die Tanzgruppe das Thema auf die Bühne - in Form einer Interpretation des Songs "Thriller". Im Hintergrund lief Praglowskis Film. Die Tanzenden wurden damit zum Sprachrohr der anderen Art für das gesamte Projekt. Doch Petzer ist es auch wichtig, den Schülern einen Weg aus der Angst zu zeigen. Gemeinsam besuchten die Kinder die Buchhandlung Kunterbuch - um Mutmachgeschichten zu hören.
"Mein Motto ist, Unterschiede durch gemeinsame Aktionen zu überbrücken", sagt Petzer, selbst in Bosnien geboren und aufgewachsen und erst als Erwachsene 1991 nach Wien gekommen. Hier lernte sie Deutsch, unterrichtete erst an einer Flüchtlingsschule, seit dem Schuljahr 1993/94 an Haupt- beziehungsweise Kooperativen Mittelschulen.
Dieses Schuljahr haben die Schüler erfahren, dass alle Ängste haben, egal, woher sie kommen. Und dass es immer einen Weg heraus gibt. Als kollektiven Ausweg hat Petzer die "Rahmen" kreiert. Die Schüler haben sie im Werkunterricht aus Holz mit Werklehrerin Bernadette Huller gefertigt, von der Tanzgruppe wurden sie in ihre Choreographien integriert. "Sie sollen Schutz bieten."
Das Tanzen bietet den Schülern ein Kommunikationsmittel, auch wenn man die deutsche Sprache nicht perfekt beherrscht. Hier kann man aber auch seine Herkunftskultur ausdrücken. Und hier setzt ein zweites Projekt an - "Tanzfäden". Die Musik wird von den Schülern selbst ausgesucht, alle sind aufgefordert, hier Traditionen aus der Herkunftskultur mit dem Modernen zu verbinden.
"Hier kommen die Schüler auf einen gleichen Nenner", sagt Petzer, und zugleich lernen sie: Es ist okay, Tänze, Speisen aus der Herkunftskultur auch in der neuen Heimat zu pflegen. Integration bedeutet nicht Assimilation. Gegenseitiges Kennenlernen tut allen gut: Nur so lässt es sich konfliktfrei miteinander leben.
Die 14-jährige Jovana, mit fünf Jahren aus Serbien nach Österreich gekommen, plagte in diesem Schuljahr eine ganz besondere Angst: nicht an einer Handelsakademie aufgenommen zu werden. Sie hat ihr Ziel erreicht. Ab dem Herbst wird sie eine HAK besuchen.
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