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Ankara empört: "Ist Hitler etwa Türke?"

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare
Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".

Die deutsche Entscheidung auf Völkermord an den Armeniern provozierte historisch haltlose Vergleiche.


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Die Türkei reagierte emotional auf die Entscheidung des deutschen Bundestages, die Massaker an den Armeniern vor einem Jahrhundert als Völkermord zu werten.

Ministerpräsident Binali Yildirim wich auf Nationalismus aus: Die Türkei habe noch nie vor irgendjemandem das Haupt gebeugt, denn "dieses Volk ist ein Volk, das sich seiner Geschichte rühmt". Außenminister Mevlüt Cavusoglu warf Deutschland vor, es wolle von den "dunklen Seiten der eigenen Geschichte" ablenken. Justizminister Bekir Bozdag kanzelte Deutschland mit einem Pauschalurteil ab: "Erst verbrennst Du die Juden im Ofen, dann stehst Du auf und klagst das türkische Volk mit Genozidverleumdungen an." Und Burhan Kuzu, Mitglied des Pateivorstands der regierenden AKP, donnerte: "Schäme Dich, Deutschland. Kümmere Dich erst um Deine eigene schmutzige Geschichte. Ist Hitler etwa Türke?" Im Zorn stellte er sogar die Geschichte auf den Kopf: "Das Osmanische Reich ist wegen Ihnen auseinandergefallen."

Wie das, da doch Deutschland seinen türkischen Bündnispartner im Ersten Weltkrieg massiv mit Waffen und Generalstäblern unterstützte, nachdem Russland die Türken 1915 in der armenischen Provinz schwer geschlagen hatte? Warum ignoriert die Türkei, dass der deutsche Bundestag nicht nur auf "Völkermord" entschied, sondern auch die Mitschuld Deutschlands an diesem Massaker bekannte? Was soll also der Hinweis auf Nazi-Deutschland, da doch die Türkei einem geschnappten Taschendieb nicht die Ausrede abnimmt, das täten doch andere auch?

Bewährtes politisches Rezept

Die emotionale Reaktion der Türkei folgt einem bewährten politischen Rezept: Mache Innenpolitik mit außenpolitischen Aktionen, die beim Volk gut ankommen. Dabei spielt es keine Rolle, wenn historisch unsäglich plumpe Vergleiche herhalten müssen, um davon abzulenken, dass Deutschland die Geschichte der Nazi-Verbrechen beispielhaft aufgearbeitet hat. Und genau dazu fehlt der Türkei der Mut.

Präsident Recep Tayyip Erdogan forderte von Deutschland Rechenschaft über den Holocaust und die Vernichtung von 100.000 Herero in Südwestafrika (was längst und umfassend geschehen ist), hatte aber 2015 am 100. Jahrestag der Massaker festgestellt: "An diesem für unsere armenischen Bürger besonders bedeutsamen Tag gedenke ich aller osmanischen Armenier mit Respekt, die unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges ihr Leben verloren haben." Die entscheidende Bedingung Völkermord blieb unerwähnt. Und weil die Türkei beharrlich den Völkermord leugnet, konnte Erdogan jetzt auch drohen, dass der Beschluss des deutschen Bundestags "ernste Folgen" für die deutsch-türkischen Beziehungen haben werde. Aber sein Intimus Premier Yildirim wiegelte ab: "Niemand soll erwarten, dass sich nun plötzlich unsere Beziehungen zu Deutschland vollständig verschlechtern."

"Armenier-Frage wurde gelöst"

Völkermord oder nicht? Ab 1882 fielen türkischen Pogromen mindestens 200.000 Armenier zum Opfer. Nach der militärischen Niederlage von 1918 bezifferte eine türkische Kommission die armenischen Opfer mit 800.000, und diese Zahl bestätigte der türkische Generalstab 1928. Bereits 1915 schickte Innenminister Talat Pascha ein chiffriertes Telegramm nach Berlin: "Die Armenier-Frage wurde gelöst. Es gibt keine Veranlassung, Volk oder Regierung wegen der überflüssigen Grausamkeiten zu beschmutzen. Die armenische Frage existiert nicht mehr."

Dazu eine Mitteilung aus Berlin an die deutsche Vertretung in der Türkei: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten - gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht." Die Antwort des deutschen Generalkonsuls: Das Massaker lasse sich nicht mehr durch militärische Rücksichten rechtfertigen. "Es handelt sich vielmehr, wie mir Talat sagte, darum, die Armenier zu vernichten. Übrigens wird unumwunden zugegeben, dass das Endziel des Vorgehens gegen die Armenier die gänzliche Ausrottung derselben in der Türkei ist."

Die Türkei rechtfertigt die Vernichtung der Armenier mit der "Kollaboration" dieses christlichen Volkes mit dem orthodoxen Russland, das den Jahrhunderte alten Drang der unterdrückten Armenier nach Freiheit unterstützte. Daher kämpften auch annähernd 4000 Armenier in der russischen Armee gegen die Türken. Und aus diesem Grund sollte ein ganzes Volk ausgerottet werden?