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Eine Gelegenheit, alle gegen sich aufzubringen, sollte sich ein Leitartikler keinesfalls entgehen lassen. Fangen wir mit der Türkei an: Die Weigerung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, den Genozid an den Armeniern im Jahr 1915 beim Namen zu nennen, ist schlicht eine Schande für den Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches.
Erdogan sprach vor einem Jahr von den Ereignissen im Ersten Weltkrieg "als geteiltem Schmerz" zwischen Christen und Muslimen, so als gebe es keinen Unterschied zwischen im Krieg gefallenen osmanischen Soldaten und brutal hingemetzelten armenischen Zivilisten.
Weiter geht es mit Österreich: Auch diese Republik hatte es sich viel zu lange im Opfermythos bequem eingerichtet - schließlich sei Österreich ja das erste Land gewesen, das Adolf Hitlers Expansionsdrang zum Opfer gefallen sei, hieß es jahrzehntelang.
Die wahren Opfer mussten bis zum 9. Juni 1993 auf die richtigen Worte warten. Erst an diesem Datum bat Bundeskanzler Franz Vranitzky anlässlich seiner Israel-Reise in einer Rede an der Hebräischen Universität Jerusalem im Namen der Republik Österreich die Opfer um Verzeihung.
Japans nationalistischer Premier Shinzo Abe hingegen findet bis heute keine glaubwürdigen Worte des Bedauerns für das, was die Soldaten des Tenno in Korea und China in den 1930ern und später im Zweiten Weltkrieg anrichteten. Was wird er wohl am 15. August, dem 70. Jahrestag der Kapitulation Japans sagen? Man wird sehen.
Unter der Führung von Wladimir Putin ist Russland immer weiter davon abgerückt, die Verbrechen Josef Stalins beim Namen zu nennen, genauso wie die chinesische Führung bis heute darauf beharrt, dass Mao Tsetung zu 70 Prozent gut und nur zu 30 Prozent schlecht für das Land war.
Polen und die Ukraine waren zwar Opfer Nazideutschlands, an antisemitischen Pogromen auf dem Boden dieser beiden Länder waren aber Bürger dieser Länder beteiligt oder zumindest mitbeteiligt. Ist Geschichtsblindheit denn epidemisch?
Es scheint so. Aber all das macht Erdogans Versagen, die richtigen Worte zu finden, nicht entschuldbarer. Ankaras trotzige Ablehnung, sich der Verantwortung historischer Schuld zu stellen, ist nämlich das wohl krasseste Beispiel der Realitätsverweigerung in dieser Liste.
Aber die Türkei wird lernen: Wer die Vergangenheit nicht bewältigt, kann die Zukunft nicht meistern.
Dossier: Der geleugnete Genozid