Die türkische Regierung betrachtet die Kurden immer noch als ebenso große Gefahr wie die IS-Terroristen.
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Istanbul. Der belagerten syrischen Grenzstadt Kobane ist ihr Platz in den kurdischen Geschichtsbüchern sicher. Unklar ist nur noch, wie lange die kurdischen Verteidiger Kobanes der an Feuerkraft weit überlegenen Terrormiliz Islamischer Staat (IS) standhalten kann. Nachdem die Islamisten am Montag bereits einen strategisch wichtigen Hügel eingenommen hatten, drangen die Dschihadistengestern trotz internationaler Luftschläge von mehreren Seiten in die strategisch wichtige syrische Grenzstadt zur Türkei ein. Wie Menschenrechtsbeobachter am Dienstag berichteten, übernahmen IS-Kämpfer mindestens drei östliche Stadtteile, in denen sie auf mehreren Gebäuden die schwarze Dschihadistenflagge hissten.
"Kobane steht vor dem Fall", erklärte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan beim Besuch eines Flüchtlingslagers in der nahegelegenen Stadt Gaziantep. "Die Luftschläge werden den terroristischen IS nicht stoppen. Wir brauchen eine Flugverbots- und Sicherheitszone und müssen die moderate Opposition in Syrien ausbilden und ausrüsten." Zwar hatte sich die türkische Regierung vergangene Woche vom Parlament die Erlaubnis zur militärischen Intervention in Syrien und im Irak ausstellen lassen, und Regierungschef Ahmet Davutoglu im Fernsehen erklärt, dass sein Land "alles tun" werde, "um Kobane zu retten".
Teufelswerke
Doch inzwischen stellte er in mehreren Interviews klar, dass die Türkei sich militärisch so lange nicht in Syrien engagieren werde, bis es eine abgestimmte Strategie der Koalition gegen das Assad-Regime als eigentlichen Unruhestifter gebe. Ankara werde nur Truppen entsenden, wenn "andere ihren Anteil leisten", betonte der Ministerpräsident. Vorschläge, die Türkei sollte im Kampf gegen die IS-Terrormiliz mit der Assad-Regierung zusammenarbeiten, nannte der Premier schockierend: "Mit einem Teufel gegen einen anderen zusammenzuarbeiten, sollte nicht der Weg der internationalen Gemeinschaft sein."
"Das primäre Ziel der Türkei ist eindeutig Assad", sagt dazu der britische Türkei-Kenner Gareth Jenkins in Istanbul. "Davutoglu und Erdogan hatten ihre Idee des Aufstiegs der Türkei zur Regionalmacht vor drei Jahren mit dem Sturz Assads verbunden. Aber Assad ist immer noch an der Macht, was Erdogan und Davutoglu als Demütigung empfinden. Deshalb wollen sie jetzt auch nicht die Islamisten schwächen, die die stärkste Macht gegen Damaskus darstellen."
Tatsächlich erwähnt die Parlamentsresolution den IS nur ein einziges Mal als Angriffsziel, während das Assad-Regime und auch die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK darin mehrfach genannt werden. Viele Kurden in der Türkei sind ohnehin davon überzeugt, dass Ankara in Wirklichkeit gegen die Selbstverwaltung der syrischen Kurden in Kobane und einigen anderen Gebietenn entlang der türkischen Grenze vorgehen wolle. Auf die verzweifelte Lage in Kobane machten kurdische Demonstranten in vielen türkischen, aber auch europäischen Städten unterdessen mit Protestaktionen und Besetzungen aufmerksam. In Istanbul, Ankara und der Kurdenmetropole Diyarbakir kam es bei Demonstrationen zu Zusammenstößen mit der Polizei, die Tränengas und Wasserwerfer einsetzte. In der Kurdenstadt Varto im Osten des Landes wurde ein 25-jähriger Demonstrant erschossen.
Die Proteste richten sich gegen die mangelnde Hilfe der von Washington geführten Anti-IS-Koalition für die belagerten Kurden in Kobane, denen sowohl Lebensmittel wie Waffen und Munition fehlen. Laut kurdischen Quellen sollen sich noch immer bis zu 1000 Zivilisten in der Stadt aufhalten, die Zahl der Kämpfer der kurdischen Volksverteidigungskräfte verfügen wird auf 5000 geschätzt. Nach türkischen Regierungsangaben sind mehr als 186.000 Menschen vor den Kämpfen in der Region Kobane in die angrenzende Türkei geflohen. Die kurdischen Kämpfer kritisierten seit Beginn der IS-Offensive vor drei Wochen, dass sie schlecht ausgerüstet seien und keinerlei Hilfe von außen erhielten. Inzwischen warnte der syrische Kurdenführer Salih Muslim erneut vor einem Massaker, sollte der IS die Stadt einnehmen.
Alte Denkmuster werden wach
Für den Türkei-Experten Jenkins ist die türkische Zurückhaltung zwar kein Zeichen einer Sympathie Ankaras mit dem IS. "Die türkische Regierung will aber eine Konfrontation mit IS vermeiden, weil sie Anschläge in türkischen Städten fürchtet. Und sie kehrt zu ihrem alten Denken gegenüber der PKK zurück", sagt er.
Tatsächlich betrachtet die Regierung in Ankara die kurdische Volksverteidigungsmiliz in Kobane als Teil der PKK, mit der sie zwar seit zwei Jahren Friedensgespräche führt, die sie in den vergangenen Tagen aber auffallend häufig wieder als Terrororganisation bezeichnete. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan setzte die PKK sogar mit den IS-Milizen gleich: "Für uns ist die PKK dasselbe wie der IS. Es ist falsch, die beiden zu unterscheiden."
Gareth Jenkins spricht daher von einer Rückkehr zu alten Denkmustern und einer "irrationalen Haltung" bei der Regierung: "Erdogan und Davutoglu kämpfen noch immer die Kriege von gestern und begreifen nicht, dass sich die Lage grundsätzlich geändert hat. Sie erkennen nicht, dass die PKK ihr Image seit ihrer Rettung der Jesiden im Irak international enorm verbessern konnte. Ihre Kämpfer gelten jetzt als Helden, nicht mehr als Terroristen."
Im vergangenen Jahr hatte die Türkei einen Waffenstillstand mit der PKK erreicht, der bis heute hält. Außerdem begann die Türkei, die benachbarten Kurden als wirksamen Puffer gegen das Chaos in Syrien und im Irak zu betrachten. Derzeit bewege sie sich aber zurück zum Status quo ante, sagt Jenkins. Auch deshalb werde der Fall Kobanes enorme Konsequenzen haben. "Die Kurden werden ihre Hoffnung in den Friedensprozess verlieren, die PKK wird wieder zum bewaffneten Kampf übergehen. Am Ende wird die PKK profitieren. Sollte es wieder zu Gesprächen kommen, wird der Preis des Friedens viel höher sein als jetzt."
Am heutigen Mittwoch wird in Ankara Obamas Spezialbeauftragter John Allen für den Kampf gegen den IS erwartet. Ein anderer Gast musste am Sonntag mit leeren Händen Ankara verlassen: Der syrische Kurdenführer Salih Muslim wurde von seinen Gesprächspartnern vom Geheimdienst MIT mit unerfüllbaren Forderungen konfrontiert: Die syrischen Kurden sollten ihre Volksverteidigungskräfte der FSA unterstellen und sich von der PKK distanzieren - undenkbar für Salih Muslim und die PYD. "Das zeigt, dass die Gespräche mit Muslim nicht ernst gemeint waren", sagt Türkei-Experte Jenkins. "Es zeigt auch, dass die Türkei keine Strategie für Syrien besitzt - sie reagiert immer nur von Fall zu Fall und nach dem alten Schema."