Zum Hauptinhalt springen

Anleitung für Meisterstück zum Klimaschutz

Von Walter Hämmerle

Wirtschaft
Europas Stärke ist die Größe seines Binnenmarkts, sagt Umweltexpertin Geneviève Pons im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
© Luiza Puiu

Europas Weg zu einer umfassenden CO2-Bepreisung. Interview mit der Klimaschutz-Expertin Geneviève Pons.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Für "Politico", das Insider-Magazin für die Brüsseler Politikblase, ist sie eine der einflussreichsten Frauen in der EU-Hauptstadt. Tatsächlich kennt Geneviève Pons das Räderwerk wie nur wenige andere. Die Französin war bereits im Kabinett der EU-Kommission unter Jacques Delors (1985-1995) für Umweltschutz zuständig, später bekleidete sie wichtige Positionen in der EU-Kommission und leitete das Europa-Büro der NGO "World Wide Fund for Nature". Heute steht Pons an der Spitze des Thinktanks "Europe Jacques Delors", der 2020 einen Vorschlag für die Einführung einer CO2-Bepreisung vorlegte. Die "Wiener Zeitung" traf Geneviève Pons am Rande des Forum Alpbach.

"Wiener Zeitung": Die EU will bis 2050 klimaneutral sein, Österreich sogar bis 2040. Dazu braucht es nicht nur eine Revolution bei Energie und Mobilität, sondern auch im Welthandel. Doch Verhandlungen dauern hier Jahre und manchmal Jahrzehnte. Was muss schnell geschehen?

Geneviève Pons: Um die Regeln für den internationalen Handel zu ändern, dauert es tatsächlich lange. Deshalb wird es sich nicht vermeiden lassen, dass die EU manches unilateral auf den Weg bringt. Unser Ziel ist klar: Klimaneutralität bis 2050; und wir kennen den Weg dorthin. Um das zu schaffen, müssen wir unsere CO2-Emissionen um zumindest 55 Prozent reduzieren und den Großteil des EU-Klimaschutzpakets "Fit for 55" umsetzen - und zwar beides bis 2030. In diesem Paket sind beim CO2 sogenannte Grenzausgleichsmaßnahmen (Carbon Border Adjustments CBA; Anm.) vorgesehen, wie sie "Europe Jacques Delors" bereits vor zwei Jahren vorgeschlagen hat. Deren Zweck ist, die EU-Industrie vor unlauterem Wettbewerb durch Länder mit weniger ambitionierter Klimapolitik zu schützen und die großflächige Einführung einer effektiven CO2-Abgabe voranzutreiben. Um diesen Schritt kommen wir nicht herum.

Wenn die EU hier vorprescht, wird das unseren wichtigsten Handelspartnern, den USA und China, nicht gefallen.

Ja, wir müssen unilateral vorangehen, aber, und das ist wirklich wichtig, wir müssen es diplomatisch angehen und gut erklären, damit ein solcher Schritt nicht als Protektionismus missverstanden wird. Jetzt, wo wir es mit dem Klimaschutz endlich ernst meinen, muss auch der CO2-Preis steigen. Tatsächlich ist das bereits der Fall: Der Preis für eine Tonne CO2 im EU-Emissionshandelssystem ETS liegt bei 50 Euro, und erstaunlicherweise ist das genau der Preis, der jetzt angemessen ist, damit wir bis 2050 klimaneutral werden.

Aber nur für den Moment, weil der Preis mit der Zeit weiter steigen muss. Wo soll der CO2-Preis 2030 liegen?

So bei 70 Euro pro Tonne, vielleicht auch bei 100 Euro, ganz genau kann das niemand sagen, weil der Preis ständig an die sich verändernden Bedingungen angepasst werden muss. Als Nächstes geht es jetzt darum, dass alle CO2-intensiven Bereiche der Wirtschaft diesen Preis bezahlen. Derzeit deckt das ETS-System nur 40 Prozent der Treibhausgas-Emissionen ab, die bestehenden Ausnahmen müssen deshalb gestrichen werden. Wenn der Emissionshandel auf alle Industrien ausgeweitet wird, bedeutet das eine schwere Last für diese Unternehmen, deshalb müssen wir dafür sorgen, dass jeder, der in den Binnenmarkt exportieren will, diesen Preis bezahlen muss. Dazu brauchen wir als weitreichendste und wirkungsvollste unilaterale Maßnahme die Grenzausgleichsmaßnahmen. Unser Vorteil liegt im Binnenmarkt, der so groß ist, dass kein anderer Staat die EU-Regeln ignorieren kann, weil sie Standards setzen.

Wann wird hier der erste Schritt gesetzt, und wie sieht dieser aus?

Der erste Schritt ist bereits erfolgt: Wir haben mit unseren Partnern geredet und ihnen erklärt, warum wir das unbedingt tun müssen, einfach weil es notwendig ist, um unsere Emissionen radikal zu kürzen.

Haben die Partner es verstanden, und vor allem: Akzeptieren sie es auch?

Na ja, lassen Sie es mich so formulieren: Die USA tendieren dazu, die dahinterstehende Logik zu verstehen, was aber noch lange nicht bedeutet, dass sie es auch akzeptieren. Die erste Reaktion Chinas und Indiens lautet: "Das ist Protektionismus!" Als Ausgangsposition für weitere Verhandlungen ist das aber keine ungewöhnliche Erstreaktion. Dazu muss man wissen, dass China bereits ein eigenes Emissionshandelssystem betreibt, das dem der EU durchaus ähnelt, allerdings mit einem noch sehr niedrigen, aber steigenden Preis.

Und der nächste Schritt?

Die Ausweitung des ETS-Systems auf alle Industrien in der EU kann nur Schritt für Schritt erfolgen und braucht Zeit. Voll ausgebaut wird die CO2-Bepreisung in der Union wohl erst nach 2030 sein. Dieser Vollausbau und die Einführung eines CO2-Grenzausgleichssystems müssen aufeinander abgestimmt werden, weil wir niemanden schlechterstellen dürfen. Und weil das so viel Zeit benötigt, wird das System, wenn es denn erst einmal in Kraft ist, enorm progressiv wirken, das heißt, eine starke Preisentwicklung entfalten. Wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen, ist das unvermeidlich. Als Erste werden wir unsere unmittelbaren Nachbarn einbeziehen; mit dem Westbalkan und der Ukraine geschieht das für den Bereich der Stromproduktion bereits.

Wann werden wir damit beginnen, den USA und China in Sachen Karbon-Preis auf die Zehen zu steigen?

Das wäre genau der falsche Ansatz! Stattdessen müssen wir darüber reden, wie hoch der CO2-Preis in den Produkten ist, die diese Staaten in die EU exportieren wollen, und wie hoch in jenen Produkten, die sie aus der EU importieren. Diese beiden Preise müssen einander angepasst werden. Das wird lange Verhandlungen erfordern. Schließlich braucht es noch eine Agentur, welche die Karbon-Intensität der betroffenen Produkte neutral misst und die dahinterstehenden Bepreisungssysteme vergleicht. Zu guter Letzt schlagen wir einen Fonds vor, um beim ökologischen Umbau der Energiesektoren in den ärmsten Staaten mitzuhelfen. Die Mittel hierfür sollten aus den CO2-Abgaben der Wirtschaft kommen.

Wann wird dieses CO2-Regime vollständig in Kraft sein?

Hier wage ich keine Antwort. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass es je dazu kommen wird. Ich habe in meinem Berufsleben in der EU-Kommission zu viele hochfliegende Pläne erlebt, die dann niemals umgesetzt wurden. Oft ist es an der Einstimmigkeit im EU-Rat gescheitert. Wenigstens braucht es für die CO2-Bepreisung keine Einstimmigkeit der EU-Staaten, sondern nur eine qualifizierte Mehrheit, weil es sich um keine Steuer handelt. Die Chancen, dass der EU-Rat zustimmt, sind also intakt, sogar gut. Offen ist, ob wir unsere Handelspartner davon überzeugen können. Hier bin ich mir nicht sicher. Ich bin nicht gerne pessimistisch, deswegen bin ich es auch hier nicht.

Was macht Sie also zuversichtlich?

Dass wir jetzt zum ersten Mal mit dem EU-Parlament eine Institution haben, die Veränderung im Klimaschutz wirklich will. In meinen Augen hat Greta Thunberg hier das größte Verdienst. Ihr ist es gelungen, die Jungen zu mobilisieren - und dadurch sind auch viele ältere Menschen aufgewacht.

Es wäre aber nicht das erste Mal, dass wir die Veränderungslust und -kraft der Jugend falsch einschätzen.

Wir müssen es deshalb zur Regel machen, ausschließlich optimistische Menschen zu engagieren. Wir brauchen diese Zuversicht, weil wir weiterkämpfen müssen. Es hat sich aber noch etwas Entscheidendes geändert: Wir haben mit dem 750 Milliarden-Euro schweren Wiederaufbaufonds, für den die EU-Staaten gemeinsame Schulden aufgenommen haben, zum ersten Mal die nötigen finanziellen Möglichkeiten.