Bilder einer fremden Welt: Wie Ausländer Japan sehen. - Besuch bei zwei Fotografen und einem Galeristen in Tokyo.
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Was für ein magischer Anblick. Abertausende von Magnesium-Fackeln müssen den Beerdigungszug für Kaiser Meiji illuminiert haben, damit jede Phase der Prozession fotografisch festgehalten werden konnte. 1912 war das, und das Datum verrät, was für einen Stellenwert die Fotografie in Japan bereits in ihren Anfangszeiten besaß. Günter Zorn erzählt die Geschichte mit der Begeisterung eines studierten Fotoingenieurs und der Bewunderung für ein Land, das ihm seit 1991 zur Heimat geworden ist. Wir sitzen in seinem Büro für Wirtschaftsberatung in Kagurazaka, einem Viertel in der Nähe des kaiserlichen Palasts in Tokyo.
Der einstige Manager hat vor seiner Selbstständigkeit unter anderem in den 80er Jahren für den Weltkonzern Polaroid gearbeitet, als die Sofortbilder weltweit noch in vielen Haushalten "trockengewedelt" wurden und sich fast jeder Fotokünstler dieser Technik bediente. In dieser Zeit ist er viel herumgereist, und immer wenn er mit japanischen Kollegen zusammentraf, fühlte er sich am wohlsten. "Sie waren freundlich, begeisterungsfähig und dabei so viel bescheidener als viele amerikanische oder europäische Kollegen."
Später, als er für andere Unternehmen arbeitete, war er dann häufiger in Japan, und für ihn war es Liebe auf den ersten Blick. "Die Parks, die Schreine in Kyoto - ich habe da eine besondere Stimmung empfunden. Da sah ich Buddha-Figuren, über 800 Jahre alt, teils verfallen, und doch magisch mit diesem sanften und überlegenen Ausdruck. Wenn man heute dort unterwegs ist", schränkt er ein, "eingezwängt im Strom der Touristen, vor allem aus China und Korea, ist das schwer nachzuempfinden."
Feine Grautöne
Die Fotografie war für Günter Zorn schon sehr früh das Medium, seine Erfahrungen festzuhalten. In den letzten Jahren nimmt sie in seinem Leben einen immer größeren Stellenwert ein. "Wenn ich um das Büro einen Radius von etwa 1,5 Kilometer ziehe, dann ist das ungefähr der Bereich, den ich fast täglich auf immer anderen Wegen durchstreife." Hier ist er dann mit seiner Leica Monochrom unterwegs, einer digitalen Kamera, die ausschließlich Schwarz-Weiß-Bilder produziert. Und hier sieht er auch Schönheit in den Dingen, die Japaner gar nicht mehr registrieren. Und macht in feinen Grautönen abgestufte, subtile Stillleben des Urbanen daraus.
Er sucht und findet Anmut in der Unordnung, das Bestehende im raschen Wandel. Ein Konzept, das sich stark an die zen-buddhistische Ästhetik des Wabi-Sabi anlehnt - und so ungefähr das Gegenteil einer zentrierten, symme-trischen und herausgeputzten Vorstellung von Schönheit ist. Schon allein deswegen mag sich der Kosmopolit, der auch schon in Paris und Amsterdam gelebt hat, einen Wegzug aus Tokyo nicht vorstellen:
"Das ist alles so anders hier als die deutschen Reihenhäuschen oder auch die Architektur von Paris. Auf den ersten Blick mögen die Häuserzeilen, die Haussmann seiner Stadt angelegt hat, ja schön erscheinen. Doch mit der Zeit wirken sie einfach langweilig und monoton. Ganz das Gegenteil von Tokyo, wo man in diesem manchmal chaotischen Nebeneinander zusammenhangloser Teile immer Neues entdecken kann. Das bauliche Chaos, die elektrischen Leitungen, die außen verlaufen. Das alles sind Strukturen, die fotografisch viel interessanter sind."
Elixier Freundschaft
Das erste Mal habe ich Gui Martínez auf dem Bildschirm meines Laptops gesehen. Da packt in einem Video ein junger, gut aussehender Typ seinen alt aussehenden Fotoapparat, ein paar Rollen Film und fährt zu einem Shooting mit einer sehr schönen japanischen Frau. Kommt erschöpft nach Hause, greift sich den Schlüssel zu seiner alten Yamaha und fährt raus aus der sehr großen Metropole Tokyo in die herbstliche Landschaft Japans.
Jetzt sitzt er mir gegenüber, in einem kargen, mehrere Räume großen Studio in der Nähe des Modeviertels Harajuku, aus dessen Fenstern man die Skyline der Stadt sehen kann. Ob er das häufiger macht, Rausfahren, um von seiner Arbeit zu entspannen? "Nicht wirklich", sagt er lächelnd, "ich bin in der glücklichen Situa- tion, dass ich die Arbeit und das Reisen nicht trennen muss, das ist alles eins in meinem Leben. Selbst wenn ich die unterwegs gemachten Fotos nicht an ein Magazin verkaufen kann, habe ich mich doch auch fotografisch weiter entwickelt, habe Neues ausprobiert."
Als Martínez vor zehn Jahren nach Tokyo kam, nach Stationen in seinem Heimatland Brasilien und London, wo er zur Schule ging und als Assistent bei einem Art Director arbeitete, war die Stadt zunächst einmal ein Schock für ihn. "Diese Massen, immer in Eile, und so uniform, so konservativ. Kaum ein Lächeln in den Gesichtern. Die Menschen wirkten immer gestresst auf mich." Doch seltsam, schon bald stellte er fest, dass er gerade in Tokyo schneller als irgendwo sonst Freundschaften knüpfte, noch dazu solche, die haltbarer waren als zuvor.
"Klar gibt es hier diese starke Tendenz, sich der Mehrheit anzupassen. Abweichung ist nicht sehr angesehen. Aber die Leute, die eben nicht so ticken wie die meisten, finden sich gerade deswegen schnell. Und sie bleiben zusammen, egal ob Japaner oder Ausländer, Künstler oder Angestellte im Restaurant. Wenn man bedenkt, dass der Großraum Tokyo rund 35 Millionen Einwohner hat, ist diese Minderheit noch immer sehr zahlreich."
Martínez’ Lebenselixier sind Freundschaften, er kann gut mit Menschen, und das sieht man seinen Porträts und Modestrecken auch an. Zahllose Freunde hat er anfangs in Tokyo fotografiert, von denen einige in der Fashion-Szene arbeiten, die zeigten ihre Porträts dann anderen, und so bahnte er sich langsam seinen Weg in die hart umkämpfte Branche. Geholfen hat ihm sicher sein Charme und seine sehr spezielle Form der Fotografie. Martínez arbeitet nur mit analogen Kameras, mit Dia-Filmen, die man sehr genau belichten muss. Seine Bilder haben eine warme, pastellfarbene Intensität, strahlen Sinnlichkeit und Lebensfreude aus. Nicht selten bearbeitet er die Abzüge nachträglich noch mit der Hand, um einen weichen, traumartigen Look hinzubekommen.
Martinez liebt die natürlich wirkende Unschärfe in der analogen Fotografie. Vor allem aber liebt er Farben. Vielleicht sein brasilianisches Erbe? Er lacht: "Kann schon sein!" Anders als viele Zugezogene war der Fotograf nie sonderlich fasziniert von einer spezifisch japanischen Ästhetik, weder in der traditionellen buddhistischen Variante, noch in der popkulturellen Manga-Form. Eher ist es so, dass ihm die Fremdheit der japanischen Kultur dabei geholfen hat, seinen ganz eigenen Stil zu entwickeln. Japanisch spricht er gut genug, um mit seinen Auftraggebern kommunizieren zu können, aber wiederum nicht so gut, dass man von ihm erwarten würde, die unzähligen Verhaltensregeln einzuhalten.
Tokyo gibt ihm die Carte Blanche, er selbst zu sein. "Ehrlich gesagt, bin ich auch froh, von all den typisch westlichen Beziehungsgesprächen verschont zu sein. In Japan kehrt man sein Ego nicht so nach außen, man ist bescheidener und weniger individualistisch. Ich kann mich hier lauter denken hören", sagt er mit schlagender Offenheit. Und wenn Tokyo mit seinen Massen lauter zu werden droht als sein Denken, setzt sich Martinez auf die alte Yamaha, fährt auf gut ausgebauten Straßen in ein Beach-Haus außerhalb der Stadt, das er sich mit Freunden teilt, und hört bloß das Rauschen des Meeres, wenn er auf seinem Surfbrett steht.
Die dunkle Energie
Jeder in dem kleinen japanischen Ort wusste, wo der örtliche Gangster wohnte. Auch Mark Pearson, der in der Bar seiner Schwiegermutter aushalf und ihn alle paar Wochen sah, wenn er kam, um das Schutzgeld einzutreiben. Das war Anfang der 80er Jahre. Und Japans Geschichte nach dem Krieg eine ökonomische Erfolgsgeschichte, nur mit jener Deutschlands vergleichbar. Aber zu einem hohen Preis. "Es gab viel offenes Gangstertum und Gesetzlosigkeit damals", sagt der schlanke, feingliedrige Engländer und bestellt auf Japanisch einen Grünen Tee.
"Die Fotografie spiegelte das wider. Araki und Daido Moriyama streiften damals durch Shinjuku. Sie zeigten das Nachtleben, die Bars und Bordelle. Die ganze dunkle Energie, die Japan früher hatte, und die es vielleicht noch gibt, die aber nicht mehr sichtbar ist." Er hält inne und überlegt: "Animal Spirits", sagt er dann mit einem sanften Lächeln und nimmt einen Schluck von dem Tee. "Animal Spirit" ist so ziemlich das Letzte, was dem heutigen Besucher des aufgeräumten und straff organisierten Tokyo in den Sinn kommt, wenn er durch die Stadt läuft. Schon gar nicht hier in den Galerieräumen in Daikanyama, wo eine Messe für Fotografie stattfindet. Es ist ein Ort direkt am jungen Herzen Tokyos, in Shibuya, aber hier gleiten Bentleys still durch ruhige Straßen, an Nobelrestaurants und Boutiquen vorbei.
Angereist ist Pearson aus Hongkong, wo er seit 2013 lebt. Einmal im Monat kommt er für eine Woche nach Tokyo, auch um in seiner auf Fotografie spezialisierten Zen-Galerie nach dem Rechten zu sehen. Bis 2013 hatte er ziemlich genau die eine Hälfte seines Lebens in London und die andere Hälfte in Tokyo gelebt und sein Geld mit Beteiligungsfonds gemacht.
Ihm schien das ein guter Zeitpunkt, um noch einmal einen Sprung zu wagen. Hongkong lag da nahe, für China hat er sich früh schon interessiert, auch für die dortige Fotografie. 2009 hat er die Galerie gegründet, schon damals wollte er Brücken bauen zwischen Japan und China, wenn auch nur solche in der Kunst. Durch seine Kontakte mit japanischen und chinesischen Fotografen hat er im Kleinen auch die Entwicklung der beiden Länder vor sich.
Introspektion
"Japan ist so reif, so entwickelt und saturiert", sagt er, "fast schon postindustriell. Die seit Jahren andauernde Stagnation verstärkt diesen Eindruck fast noch. Die Leute haben ihren Ehrgeiz verloren, den man in China und auch in Hongkong überall noch spürt." Japan dagegen? "Ist den Weg der Intro-spektion und Selbstreflexion gegangen seit dem Platzen der Spekulationsblase Ende der 80er. Und auch das spiegelt die gegenwärtige Fotografie." Mark Pearson erwähnt die international erfolgreiche Rinku Kawauchi, die auch banalen Alltagsdingen eine sehr japanisch anmutende, ätherische Note abgewinnen könne. "Aber vielleicht war die Zeit in den 70er und 80er Jahren mit ihren starken amerikanischen Einflüssen auch nur der Ausnahmefall, vielleicht hat sich die Fotografie an die Wurzeln der japanischen Kultur gelegt."
Und jetzt also Hongkong. Ich frage ihn, worin sich die Arbeiten von jungen japanischen und chinesischen Fotografen unterscheiden. Pearson gibt eine ausweichende Antwort: "Ein junger Chinese hat mir kürzlich gesagt, er sei froh, in einem Land zu leben, wo es jeden Tag so viel Verrücktes zu sehen gäbe. Es ist also auch das Material, das zählt. Aber sicher ist: die chinesischen Fotografen wollen den kommerziellen Erfolg viel stärker als die Japaner. Dafür arbeiten die Japaner auch dann weiter an ihren Projekten, wenn sie gar keine Perspektive haben, damit erfolgreich zu sein. Und das finde ich schon faszinierend."
Ob er Tokyo jetzt anders sieht als früher? "Hongkong ist eine vi-brierende Stadt, voller Kontraste - und Fremde gewöhnt. Sie werden schnell einbezogen, man will wissen, was sie machen, woher sie kommen. Die Leute reden miteinander, sie lächeln mehr. In Tokyo ist man eher cool, gibt sich ungerührt gegenüber Fremden, gegenüber anderen überhaupt. Und so richtig erkenne ich das erst jetzt, da ich nicht mehr in Japan lebe."
Wassilios Nikitakis, geboren 1967, hat in Köln und Thessaloniki studiert und arbeitet seit 2002 als Kulturredakteur beim Rundfunk in Köln. Er fotografiert seit seinem 16. Lebensjahr, meistens in Schwarzweiß. Eine Auswahl seiner sowohl analog als auch digital aufgenommenen Bilder findet man in seinem Blog:
https://navidsonstreets.com
Webadressen:
www.guenterzorn.com
www.guimartinez.com
www.zen-foto.jp