Ermordete Journalistin klagte russischen Anti-Terrorkampf an. | Moskau. "Vor mir stapeln sich jeden Tag Dutzende Ordner - kopierte Verfahrensunterlagen gegen Menschen, die bei uns wegen ,Terrorismus im Gefängnis sitzen oder sich in Untersuchungshaft befinden." So beginnt Anna Politkowskaja ihren letzten Artikel, den ihre Zeitung "Nowaja Gaseta" gestern publizierte. "Die am Fließband produzierten offenherzigen Geständnisse sind hervorragende Belege für den ,Kampf gegen den Terrorismus im Nordkaukasus", schreibt die am Samstag ermordete Journalistin ironisch. "Ich fürchte, dass dieser Hass irgendwann über die Ufer treten wird", kommentiert Politkowskaja.
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Die kürzlich ermordete Journalistin berichtet von einem Brief, den ihr Beslan Gadajew aus Grosny schrieb. Gadajew wurde in der Ukraine verhaftet, wo er als Flüchtling lebte, und an Russland ausgeliefert. Politkowskaja zitiert: "Hast du Leute aus der Familie Salichow, Ansor und ihren Freund umgebracht?", wurde er im Gefängnis gefragt. Als er verneinte, wurde er geschlagen, immer wieder mit Wasser abgespritzt; ein Plastiksack über dem Kopf dämpfte die Schreie. Vor Journalisten musste er die drei Morde gestehen. Die Verletzungen stammten von einem Fluchtversuch, sollte er erzählen.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schätzt, dass durch die Hand der moskautreuen tschetschenischen Truppen in den letzten sechs Jahren 3000 bis 5000 Menschen verschwunden sind. Die Situation in dem von Premierminister Ramsan Kadyrow kontrollierten Norden Tschetscheniens sei "schlimmer als ein Krieg".
Im Juli wurde Russland erstmals vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg verurteilt. Es wurde für das "Verschwinden" von Hatschimurat Jandiew verantwortlich gemacht und muss dessen Mutter 35.000 Euro Schadensersatz bezahlen. Als Beweis diente ein CNN-Video: Darauf war zu sehen, wie ein russischer General Jandiew verhörte und dann seine Exekution anordnete.
Die Situation in Tschetschenien ist das Resultat der Kreml-Politik: Nach dem zweiten Tschetschenien-Krieg wollte Moskau die Region durch einen loyalen tschetschenischen Vasallen kontrollieren. Kadyrow bekam immer mehr Machthebel in die Hand.
So werde Russland Tschetschenien verlieren, glaubt Politologe Sergej Markedonow: "Kadyrow betreibt einen systemtreuen Separatismus. Obwohl er seine Loyalität zu Russland beteuert, führt er es immer mehr weg davon."