Direkte Demokratie als Argument gegen EU-Beitritt. | Parteien verteidigen den Sonderweg. | SP sieht aber wirtschaftliche Nachteile. | Bern/Luzern. Es stimmt, sie stimmen über alles ab. Fast alles. Die 22-jährige Anita steht hinter der Bar eines Pubs in Luzern, schenkt Bier aus und erläutert die Vorzüge der direkten Demokratie in der Schweiz. "Sie bringt uns dazu, uns informieren zu müssen - und zum Diskutieren", sagt die junge Frau, die sich mit Kellnern ihr Studium der Wirtschaftskommunikation finanziert.
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"Manchmal ist es mühsam", räumt sie ein. Alle paar Wochen ein Referendum: Ob die Schule renoviert oder ein Altersheim gebaut werden soll, können die Bewohner der Stadt mitentscheiden. "Aber was interessiert mich jetzt ein Altersheim?" überlegt Anita zunächst. Ihre Einstellung ändere sich allerdings, wenn sie mit jemandem darüber redet, der kurz vor seiner Rente steht. Solche Diskussionen ergeben sich zwangsläufig, wenn die Menschen mitbestimmen können, erklärt die Studentin. Und genau das weiß sie zu schätzen.
Geschätzte Mitsprache
Referenden - ob auf Bundes-, kantonaler oder Gemeindeebene - haben in der knapp 41.300 km 2 großen Schweiz mit ihren rund 7,4 Millionen Einwohnern eine lange Tradition. Manche sind verpflichtend - etwa im Falle einer Verfassungsänderung -, viele gehen aber vom Volk aus. Dieses kann im Nachhinein über ein Bundesgesetz abstimmen, falls 50.000 Stimmberechtigte dies verlangen. Die Unterschriften müssen innerhalb von hundert Tagen nach der Publikation eines Erlasses vorliegen. Auch eine Verfassungsänderung können die Stimmberechtigten fordern: Dafür müssen innerhalb von 18 Monaten 100.000 Menschen unterschreiben. Danach wird abgestimmt. Die Wahlbeteiligung an Referenden liegt allerdings im Schnitt bei 40 Prozent.
An ihren Mitsprachemöglichkeiten hängen aber die Schweizer - und die Schweizerinnen, die erst seit 1971 das Wahlrecht haben. Es ist einer der Hauptgründe für die Ablehnung eines EU-Beitritts: "Wenn wir dabei sind, ist es vorbei mit der direkten Demokratie", heißt es oft. Nur ein Drittel der Bevölkerung spricht sich für eine Mitgliedschaft aus, die Zahl der Gegner ist genauso hoch.
Tauziehen um Gesuch
Dennoch nähert sich das Land, das von EU-Staaten umgeben ist, kontinuierlich der Europäischen Union an. Mit einer Reihe von bilateralen Abkommen versucht es, die Vorteile einer Staatengemeinschaft zu nutzen. Schon jetzt ist die EU wichtigste Handelspartnerin der Schweiz: Mehr als zwei Drittel der Exporte gehen in den EU-Raum, fast vier Fünftel aller Importe stammen von dort.
Im Juni stimmten die Schweizer für die Justiz- und Polizeiabkommen von Schengen und Dublin, Ende September votierten sie für die Personenfreizügigkeit für Bürger der zehn neuen EU-Länder. Dabei war die Angst vor vermeintlich unkontrollierbarer Einwanderung noch 1992 einer der Gründe für die Ablehnung des Beitritts zum Europäischen Wirtschaftsraum.
Den bilateralen Weg hingegen loben mittlerweile alle politischen Parteien. Und da die Schweiz davon schon in weitem Ausmaß profitiere, könnte das in Brüssel auf Eis liegende Beitrittsgesuch gleich zurückgezogen werden, argumentiert die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP). Ähnlich äußerte sich der Wirtschaftsdachverband economiesuisse. Dieser ist nicht zuletzt um den Finanzplatz Schweiz und dessen Wettbewerbsvorteile besorgt.
Weniger klar drückt sich die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) aus. "Ein Beitritt ist kein strategisches Ziel, sondern eine Option", erklärte Präsidentin Doris Leuthard beim Europa Forum Luzern: "Wenn Europa gelernt hat, näher bei den Bürgern zu sein, wäre ein Beitritt möglich." So hätte die geplante EU-Verfassung die Möglichkeit von Volksbegehren vorgesehen. Eine Ratifizierung des Vertragswerks ist allerdings nicht in Sicht.
Privilegierter Partner?
Die meisten Politiker setzen denn auch - wie weite Teile der Bevölkerung - auf Zeit. Es gelte abzuwarten, wie sich die EU weiterentwickelt, wie sie die letzte Erweiterung und die kommende Vergrößerung meistert, ist zu hören.
Michael Ambühl, Staatssekretär im Eidgenössischen Außenamt, stellt etwa die Frage nach dem künftigen Verhältnis der EU zu Drittstaaten. Wenn nämlich die Union nicht zuletzt im Rahmen der aktuellen Erweiterungsdebatte "flexiblere Integrationsmechanismen" - zwischen Beitritt und Kooperation - entwickelt, könnte das die Haltung der Bevölkerung zur EU beeinflussen.
Was die Türkei immer abgelehnt hat, scheint in der Schweiz durchaus annehmbar: eine privilegierte Partnerschaft mit der EU.
Lieber heute als morgen Beitrittsverhandlungen beginnen will lediglich die Sozialdemokratische Partei (SP). Sie verweist unter anderem auf wirtschaftliche Nachteile, die aus einer Nicht-Mitgliedschaft folgen.
Geringeres Wachstum
Zwar gehört die Schweiz noch immer zu den reichsten Ländern der Welt. Doch behinderten schleppende Strukturreformen und ungenügender Wettbewerb das Wachstum. Betrug das Wirtschaftswachstum vor fünf Jahren noch 3,2 Prozent, lag es im Vorjahr bei 1,5 Prozent. Die Arbeitslosenrate stieg von zwei auf knapp vier Prozent. Der Vorsprung gegenüber Österreich macht nur noch sechs Prozentpunkte aus.
Auch wenn wirtschaftliche Argumente für einen EU-Beitritt sprächen - die Studentin Anita ist im Moment gegen eine Mitgliedschaft. Der Grund ist ein einfacher: Das Chaos in der Union sei derzeit zu groß.