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Vielleicht hätte sie ihren Lebenstraum verwirklicht und wäre Schriftstellerin geworden. Vermutlich hätte sie sich in der Frauenbewegung engagiert und wäre gegen Rassismus aufgetreten. Anne Frank
wäre eine prominente Überlebende des Holocaust. "Ich möchte nicht wegen meines freundlichen Lächelns geachtet werden, sondern wegen meines Handelns und meines Charakters", hatte sie in ihr berühmtes
Tagebuch geschrieben. Vielleicht wäre ihre Biographie aber auch ganz unscheinbar verlaufen.
Niemand weiß, was geworden wäre. Qualvoll starb Anne Frank im März 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen an Typhus. Damals war sie 15 Jahre alt, kommenden Samstag wäre sie 70 Jahre alt geworden.
Kahlgeschoren, Geschwüre am ganzen Körper, nur mit einer dünnen Decke um die Schulter · so wird sie von denen beschrieben, die sie als letzte gesehen haben. Es ist nicht die lebenslustige Anne, die
Millionen Leser kennen, ein jüdisches Mädchen, das trotz der drohenden Gefahr durch die Nazis und der Enge ihres Amsterdamer Verstecks Zukunftspläne schmiedet.
Auf der ganzen Welt kennt man heute den Namen des in Frankfurt am Main geborenen Mädchens, ihr Tagebuch ist in mehr als 50 Sprachen übersetzt worden. Straßen und Schulen werden nach ihr benannt,
Theaterstücke, Filme und Bücher schildern ihr Schicksal.
Annes größter Wunsch war es, Schriftstellerin zu werden, doch ihr Tagebuch sah sie nicht als potentiellen Bestseller. Im Juni 1942 mutmaßte sie sogar, "daß sich später keiner, weder ich noch ein
anderer, für die Herzensergüsse eines 13jährigen Schulmädchens interessieren wird". Sie hat sich geirrt. Zuletzt wurde im vergangenen Herbst deutlich, daß sie ein · auch im finanziellen Sinne ·
wertvolles Erbe hinterlassen hat.
Ihr Vater Otto Frank hatte das Tagebuch nach dem Krieg veröffentlicht, aber Passagen etwa über ihre Mutter gestrichen. Fünf jener nicht veröffentlichten Blätter überließ er seinem Freund Cor Suijk,
der später lange Jahre für die Amsterdamer Anne-Frank-Stiftung tätig war. Für die Unterstützung des Anne-Frank-Centers in New York wollte Suijk die Seiten dem Baseler Anne-Frank-Fonds überlassen: für
"mindestens einige Millionen", wie er in einer später von ihm aber dementierten Interview-Äußerung gesagt haben soll.
Es ist unklar, wie es mit den fünf Tagebuchseiten weitergeht. Die Historikerin Melissa Müller durfte sie einsehen, und nach ihrer Darstellung zeigt Anne viel Verständnis für ihre Mutter. In den
bekannten Tagebuchseiten hatte das Mädchen harsche Kritik an ihrer Mutter geübt, auf den bis dato unbekannten Seiten gibt sie auch ihrem Vater Schuld an der "nicht idealen" Ehe. "Vater ist nicht
verliebt, er gibt ihr einen Kuß, wie er uns küßt, er schaut sie herausfordernd und spöttisch an, aber nie liebevoll." Diese Stelle strich Otto Frank.
Doch sowohl in der vom Vater redigierten Form als in der ursprünglichen Fassung zieht das Tagebuch Leser in den Bann.
Zwar ist Anne Franks Tagebuch die wohl bekannteste Autobiographie eines Opfers der Shoah, doch es schildert die Vernichtung nicht.
Im Tagebuch Anne Franks gibt es keine mit Menschen vollgepferchten Waggons, keine Gaskammer, keinen Todesmarsch, wird der Weg der jungen Jüdin in den Tod · Westerbork, Auschwitz, Bergen-Belsen ·
nicht nachgezeichnet. Sie starb, bevor sie Worte für den unbeschreiblichen Massenmord finden konnte.