Der deutsche Maler Anselm Kiefer spricht über die Besonderheiten des Künstlertums und die Beschränktheit der Wissenschaft, erklärt sein Bild "Der fruchtbare Halbmond" - und denkt über seinen Vornamen und seine Beziehung zu Wien nach.
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"Wiener Zeitung": Herr Kiefer, warum sind Sie künstlerisch tätig?Anselm Kiefer: Das lässt sich ganz einfach in einem Satz zusammenfassen: Weil ich anders nicht leben kann.
Wie kamen Sie zur Kunst? Gab Ihnen jemand Anstöße dazu?
Ich habe eigentlich immer gewusst, dass ich Maler werde, darüber war ich mir von Kindheit an sicher. Bei meinen Eltern im Haus hingen auch Bilder, Kopien von Gemälden Breughels, die mein Vater gemacht hat, und Holzschnitte von Frans Masereel. Aber eigentlich wusste ich immer von mir, aus meinem Inneren heraus, dass ich Maler werden will.
Sie schrieben einmal, dass Sie beim Malen "kein Überwältiger" sind, sondern vielmehr selbst "der Überwältigte". Und eben, weil Sie von etwas überwältigt seien, arbeiteten Sie künstlerisch. Können Sie diesen Antrieb zum künstlerischen Schaffen beschreiben?
Das war eine Antwort auf die Frage eines Journalisten, der sich, wie viele seiner Kollegen darüber wunderte, dass meine Bilder immer so ein großes Format hätten, dass die Leute von ihnen überwältigt würden, dass man schon von der schieren Größe meiner Bilder überwältigt sei. Aber eigentlich ist es so, dass ich es immer bin, der überwältigt ist, von Dingen, von einem Gedicht, einer Begegnung, einem Ereignis, einer Reise, einem Erlebnis oder einer Landschaft, die ich auf einmal mit anderen Augen sehe. Es kann etwas sein, das zu einem bestimmten Zeitpunkt auf eine bestimmte Art in und an mir wirkt. Erst als Überwältigter kann man richtig arbeiten. Die Motivation des Schaffens ist für mich, ein Erlebnis, das ich habe, zu verarbeiten. Ein Kunstwerk entsteht nicht aus dem Nichts, sondern dann, wenn es ab und zu einen Kreuzungspunkt verschiedener Linien gibt. Wenn ich etwa überwältigt bin von einem Ereignis, das weit über die menschliche Dimension und über den Menschen hinausweist. Wenn ich mir, um hier nur ein Beispiel zu nennen, vorstelle, was etwa Stephen Hawking zum Werden und Vergehen des Kosmos schreibt, dann bin ich von dem, was sich mir dadurch eröffnet oder was ich mir darunter vorstelle, überwältigt.
Sie sehen den Künstler als ein "Medium". Was ist die besondere Gabe von Künstlern, die andere Menschen nicht haben?
Künstler sind wohl offener für Ströme, für Gedankenströme, für Konstellationen, die andere Leute nicht so schnell sehen oder erkennen. Medium meint ja, dass etwas durch einen hindurchgeht, nicht dass man etwas selber erschafft. Man ist als Künstler wohl durchgängiger für Gedanken, für Eindrücke, für Ideen, die man dann in vielfältiger Art verwandelt.
Es geht mir bei meiner Malerei nicht um handwerkliche Könnerschaft oder artistische Fingerfertigkeiten. Ich benutze die Malerei vielmehr als Instrument.
Sie sagten auch einmal den Satz "Visionen sind mit einer Vorstellungskraft und Fähigkeit verbunden, etwas an einen herantreten zu lassen und in ein Bild umzuwandeln." Ist das auch eine spezielle Gabe des Künstlers?
Sicher, denn ich schaffe ja Bilder, ich setze das, was es gibt in der Welt um, in andere als die Standardzusammenhänge. Ich als Person und Künstler bin genau so ein Kosmos, wie der Kosmos über mir. Wenn man bei sich selbst bis ins Kleinste geht, in die Zellen, in die Feinheiten der Atome und noch weiter, dann ist das genauso unendlich wie der Kosmos.
Der Kosmos ist ein konstantes Thema in Ihrem Schaffen?
Der Mikro- und der Makrokosmos. Wir sind der Mikrokosmos.
Was ist das Faszinierende am Kosmos?
Das ist die große Frage, die auch Albert Einstein nicht gelöst hat: Es gibt kein Gesetz, das gleichzeitig im Makro- und im Mikrokosmos gilt. Der britische Philosoph Robert Fludd hat im 17. Jahrhundert eine solche Entsprechung auf künstlerische Weise hergestellt. Er sagte, jeder Pflanze entspreche im Himmel ein Stern. Das ist ein wunderbar poetischer Ausspruch, aber auch ein utopischer. Ich war von diesem schönen Ausspruch so fasziniert, dass ich ihm nachgegangen bin und mich ausführlich mit Robert Fludd beschäftigt habe.
Die Wissenschaft konnte nie das gesamte Weltbild erklären. Obwohl es immer mehr Detailwissen gibt. Welche Rolle spielt die Kunst bei der Erklärung der Welt?
Ich grenze die Wissenschaft immer auch von der Mythologie ab. Die Wissenschaft hat sich im Laufe der Zeit immer mehr aufgespaltet. Am Teilchenbeschleuniger in Genf arbeiten ja heute Tausende von Wissenschaftern, wobei jeder sein kleines Spezialgebiet hat, das er für sich alleine beackert. Die Kunst und die Mythologie dagegen geben eine Erklärung der Welt in ihrer Gesamtheit. Und zwar eine Erklärung, die auch wieder entschlüsselt werden muss. Denn die mythologischen Bilder sind keine wissenschaftlichen Bilder. Aber der Künstler und die Mythologie geben beide eine ganzheitliche Erklärung der Welt. Die Mythologie und die Kunst sind die einzigen Formen der Darstellung, welche die Welt als Ganzes erfassen.
Einen zentralen Platz in der Ausstellung im Museum Frieder Burda in Baden-Baden nimmt Ihr hier erstmals in Deutschland öffentlich gezeigtes monumentales Bild "Der fruchtbare Halbmond" mit einer Größe von 460 cm x 760 cm aus dem Jahr 2009 ein, vor dem wir jetzt sitzen. Es verweist auf die Thematik von Abendland und Morgenland. Es zeigt den Turmbau zu Babel. Der Turmbau hat die Religionen und Sprachen entzweit. Der bröckelnde Babylonische Turm als Zeichen für die Entstehung und den Verfall der Kulturen? Ein Sinnbild für den gegenwärtigen Zustand der Welt?In dem Gebiet des "Fruchtbaren Halbmonds", das sich von Ägypten über die Türkei und Mesopotamien bis ans Rote Meer erstreckt, ist vor 10.000 Jahren unsere Kultur entstanden. Der Gedanke des Bildes ist: Was sich zurzeit so kriegerisch gegenübersteht, kann auch wieder zusammenkommen. Die heute gedachte strikte Trennung zwischen christlich und muslimisch ist ja ein Unfug. Auf dem Bild sind die Grundmauern des Turmes nicht mehr nur zerstört, sie sind auch im Aufbau begriffen. Unsere gesamte griechische Philosophie ist auf uns durch die Araber gekommen. Die Konfrontation, die wir gegenwärtig erleben, kann doch nur eine Episode und etwas Vorübergehendes sein.
Wie ist es für Sie, neue Bilder für Ausstellungen aus der Hand und dem Auge der Öffentlichkeit preisgeben zu müssen? Ist das für Sie auch ein Wagnis?
Das ist für mich immer etwas Unvollkommenes. Ein Bild ist für mich nie fertig. Ab und zu muss es dann aber fertig sein, wenn man es in Ausstellungen zeigt oder es von jemandem gekauft wird. Dann ist es nicht mehr veränderbar. Aber es verändert sich ja trotzdem noch, ohne dass ich etwas tue, es verändert sich durch sich selbst. Ein Kunstwerk verändert sich auch mit dem Betrachter - und meine Bilder ändern sich auch, indem sich die Farben verändern oder etwas herunterfällt. Das gefällt manchen Sammlern nicht, die denken, das muss so bleiben, wie es das Atelier des Künstlers verlassen hat. Wenn sich etwas verändert, ist das doch wunderbar! Wenn ich Bilder lange nicht gesehen habe und nach Jahren wieder anschaue, sehen sie oft ganz anders aus. Ich arbeite an meinen Bildern aber immer so lange weiter, wie sie in meinem Atelier sind.
Sie arbeiten an vielen Bildern gleichzeitig?
Ich habe ein großes Atelier, eine riesige Halle, in der die Bilder aufgereiht stehen. Da gehe ich von einem Bild zum anderen und mache einmal hier und einmal dort etwas.
Viele Ihrer Kollegen geben vor, dass Kritiken sie nicht interessierten oder sie diese nicht läsen. Was bedeutet Kritik für Sie?
Ich lese die Kritiken, besonders auch die schlechten. An Kritiken ist nämlich immer etwas dran, was zu bedenken ist. Auch wenn es eine negative Äußerung ist. Es gibt auch bei der blödesten Kritik immer noch einen Punkt, über den man nachdenken kann.
Welche Künstler waren oder sind Ihnen besonders wichtig oder haben Sie besonders beeinflusst?
Caspar David Friedrich, Édouard Manet und Michelangelo.
Sie beziehen sich in Ihren künstlerischen Arbeiten immer wieder auch auf die Literatur, etwa auf Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Rainer Maria Rilke, Adalbert Stifter, Paul Valéry, Hans Henny Jahnn, Ferdinand Céline oder den russischen Dichter Welimir Chlebnikow. Was bedeutet die Literatur für Sie und ihr künstlerisches Schaffen?
Ich lebe mit Literatur. Ich hatte schon als Kind eine große Liebe zu Büchern und ich habe eine sehr große Bibliothek. Meine Arbeit ist ja verbunden mit all dem, was um mich herum geschieht und mich durchdringt. Also auch von den Worten von Dichtern wie etwa Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Rainer Maria Rilke oder Paul Valéry, die dann in mein Werk eingehen. Ich lebe und ich kommuniziere mit diesen Autoren. Ich bin eigentlich nur ein Durchgangsstadium.
Die Namensgebung durch Ihre Eltern hat Sie auch einmal dazu bewogen, sich mit dem Maler Anselm Feuerbach, der auch - künstlerisch nicht gerade glücklich - von 1873 bis 1876 in Wien lebte, und dessen Familie zu beschäftigen?
"Anselm" ist ein sehr schöner Name. Als ich mir bewusst wurde, was ich für einen Namen habe, dachte ich an die gesamte Familie Feuerbach: an den Philosophen Ludwig Feuerbach, der heute fast vergessen ist, auf den sich dann später aber Karl Marx bezogen hat, an den Archäologen und auch an den Juristen aus der Familie der Feuerbachs. Der Maler, nach dem ich benannt bin, der ja ein klassizistischer Maler ist, hat mich dabei nicht so sehr interessiert. Aber die Feuerbachs sind eine sehr interessante Familie, ähnlich der Familie Mann, bei der sich bei jedem Familienmitglied eine spezielle Begabung gezeigt hat. Die Feuerbachs haben das gesamte Spektrum der Wissenschaft und der Kunst abgedeckt - und viele von den Feuerbachs hießen mit einem ihrer Vornamen Anselm.
Sie wurden in Donaueschingen, geboren, haben ihre Schulzeit nicht unweit von hier in Rastatt verbracht und kehren mit Bildern, die sie teilweise vor Jahrzehnten aus der Hand gegeben haben, jetzt wieder nach Baden-Baden zurück. In die Heimat?
Heimat ist für mich nicht an eine bestimmte Landschaft gebunden, die Heimat befindet sich in meinem Kopf. Heimat ist für mich alles, an das ich mich erinnern kann.
Ihre Liebe zu Neapel haben Sie einmal sehr schön beschrieben. Gibt es auch eine besondere Beziehung zu Wien?
Ja, auch zu Wien gibt es eine besondere Beziehung: Ich bin mit einer Wienerin verheiratet und mein Sohn ist in Wien geboren. Was mich aber an der Wiener Kultur immer schon besonders beeindruckt hat, ist die Literatur, die im "Wien um 1900" entstanden ist. Ich lese sehr gerne Heimito von Doderer; und Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" habe ich schon vier Mal komplett gelesen. Diese Literatur aus der Zeit, als das Habsburger Reich geschrumpft ist, aber gleichzeitig die Literatur in unglaubliche Höhen gewachsen ist, interessiert mich sehr.
In den zahlreichen Interviews, die es von Ihnen gibt, liest man Fragen, die sich immer wieder wiederholen, etwa die über Ihre frühen Gemälde mit dem Hitlergruß, die Ende der sechziger Jahre entstanden. Wie ist es für Sie, seit Jahrzehnten diese Fragen immer wieder beantworten zu müssen?
Das ist wirklich besonders schwierig, auf diese Fragen immer wieder neue Antworten zu finden. Aber die schlimmste Frage, "Warum meine Bilder so groß sind?", haben Sie ja zum Glück nicht gestellt.
Oliver Bentz, geboren 1969, Germanist, arbeitet als Kulturpublizist und Journalist in der deutschen Stadt Speyer.
Zur Person<br style="font-weight: bold;" /> <br style="font-weight: bold;" /> Anselm Kiefer, der am 8. März 1945 in Donaueschingen im Keller eines bombardierten Krankenhauses geboren wurde, verbrachte seine Schulzeit im badischen Rastatt, wo heute in der Städtischen Galerie Fruchthalle eine monumentale Holzschnittinstallation von ihm zu sehen ist. Er studierte Bildende Kunst an den Akademien in Freiburg, Karlsruhe und Düsseldorf. Von 1993 bis 2006 lebte und arbeitete er in Barjac im südfranzösischen Département Gard. Seit 2007 ist er in Paris ansässig, wo er 2010 eine Professur am Collège de France erhielt.
Anselm Kiefer gilt als einer der wichtigsten Künstler unserer Zeit. Von Anfang an bewegt sich sein malerisches Werk zwischen Abstraktion und Figuration. Symbolträchtige Verbindungen entstehen aus Sand, Asche, Blei, Beton, getrockneten Pflanzen, Glas, Stacheldraht und anderen Materia-lien. War das zentrale Thema in Kiefers künstlerischem Wirken lange Zeit die Aufarbeitung deutscher Vergangenheit, bei der er exemplarisch die deutsche Erinnerungs- und Trauerarbeit der Nachkriegsgeneration leistete, traten in den jüngeren Werken immer mehr auch christlich-jüdische und mythologische Themen hervor.
Im Museum Frieder Burda in Baden-Baden, wo auch dieses Gespräch mit Anselm Kiefer stattfand, sind bis zum 15. Jänner 2012 in einer umfassenden Schau 33 großformatige Bilder des Künstlers aus 30 Jahren zu sehen, von denen die meisten aus der Sammlung Grothe stammen. Darunter befinden sich zentrale Arbeiten Kiefers, die erstmals in Deutschland der Öffentlichkeit vorgestellt werden, etwa das Bild "Essence" aus der aktuellen Serie der Alpenlandschaften oder das monumentale Bild "Der fruchtbare Halbmond" aus dem Jahr 2009.