Von Europas guten Absichten zeugen viele Deklarationen. Doch für deren Umsetzung fehlt jeglicher Mut - der dafür notwendige gesellschaftliche Wandel birgt zu viel sozialen Sprengstoff.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 2 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wir schreiben das Jahr 2018. Die EU-Kommission teilt in ihrer Pressemitteilung mit, wie sie dem wachsenden Antisemitismus entgegentreten will. Eine Umfrage der EU-Agentur für Grundrechte gibt es noch als Draufgabe: Demnach stellt für 85 Prozent der europäischen Juden der Antisemitismus im Alltag ein großes Problem dar. Ganze 38 Prozent erwägen sogar eine Auswanderung, und rund 70 Prozent halten die Bemühungen der Mitgliedstaaten zur Bekämpfung des Antisemitismus für unwirksam.
Drei Jahre später präsentierte die EU-Kommission erstmals eine EU-Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus aufgrund "der besorgniserregenden Zunahme in Europa". Was war inzwischen geschehen? Im Grunde wenig, außer dass sich die Lage kontinuierlich verschlechtert hatte. Im Oktober 2021 bestätigte die European Jewish Association, ein europäischer Verbund jüdischer Gemeinden und Organisationen, in einer Studie den Trend von 2018 und kritisierte scharf die EU-Kommission, die endlich ihren Worten auch Taten folgen lassen solle. Drastischer formulierte es damals Joel Mergui, Präsident des Israelitischen Konsistoriums in Frankreich, das sämtliche jüdischen Gemeinden im Land vertritt: "Die Juden verlassen Europa." Wohlgemerkt Europa, nicht nur Frankreich.
Damit die kürzlich in Wien unterzeichnete "Wiener Deklaration zum europaweiten Kampf gegen Antisemitismus" nicht als eine weitere Fußnote in diesem Trauerspiel institutionalisierter Hilflosigkeit endet, ist endlich eine offene Kommunikation nötig, außer man empfindet harsche Kritik an EU-Institutionen per se als sakrosankt. Solange keine schonungslose Aufklärung über das Scheitern der Eindämmung des Antisemitismus erfolgt, bleibt der Verdacht im Raum, dass die Materie mehr verwaltet als behandelt wird. Vor allem in Bezug auf Integrations- und Migrationsfragen bleibt das Thema ein heißes Eisen, mit dem kein gewählter Politiker sich ernsthaft beschäftigen will. Das Problem ist tiefgreifender, als die Tagespolitik verträgt.
Wahrung des sozialen Friedens als Ausrede
Saturierte Gesellschaften wollen sich nicht um Werte streiten, die sogenannte Aufklärung war dagegen eine Zeit sehr heftiger gesellschaftlicher und geistiger Auseinandersetzungen. Unsere Zeit ist eine andere. Von scharfzüngigen Genies wie Voltaire kann man nur träumen. Die Wahrung des sozialen Friedens dient allzu oft als Ausrede, um sich bitternotwendige Diskurse zu ersparen.
Geradezu exemplarisch für ganz Europa war der TV-Schlagaustausch zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen in der französischen Präsidentschaftswahl. Im Bereich der Integration warnte Macron vor einem möglichen Bürgerkrieg und verkörperte damit den hysterischen Unterton vieler traditioneller Parteien, die sich bei Grundfragen des Zusammenlebens winden. Le Pens Politik der Schlagworte war dagegen keine Antithese zur präsidialen "Vernunft", sondern der krönende Abschluss einer öffentlichen Bankrotterklärung zum Thema. So beschränkte sich der öffentliche Disput zwischen rechtspopulistischer Hetze und "woker" Agitation.
Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Der Philosoph Klaus-Jürgen-Grün beschäftigte sich einst auch mit Fragen der interkulturellen Aspekte der Aufklärung. Seine Anmerkungen zeigen die ganze Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit: "Aufklärung ist ein europäisches Phänomen, das manchmal als ein unversöhnlicher Faktor im Zusammenprall der Kulturen gewertet wird." Unversöhnlich für wen? Grün betont die interkulturelle Konstante, dass Vormünder aller Art in der ideologischen Verblödung der Massen ihr Hauptgeschäft erblicken.
Worauf Grün jedoch keine Antwort hat, ist die Frage, wer denn eigentlich diese geistige Auseinandersetzung auf europäischer Ebene führen soll. Abseits der oberflächlichen Tagespolitik gibt es keinen nennenswerten intellektuellen Diskurs von gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Außer oft sinnlose Einzelprovokationen, die noch in Gewaltorgien enden, gibt es nichts. Die Abermillionen der EU-Aufklärungskampagnen laufen ins Leere, denn die eigentlichen Adressaten fühlen sich entweder nicht angesprochen oder es ist ihnen egal. Tiefsitzender Antisemitismus lässt sich nicht einfach wegkampagnesieren - eine entsetzlich naive Vorstellung.
Auch so mancher elitäre Zirkel des interkulturellen Dialogs kann wenig ändern, denn institutionelle Prestigeprojekte dienen meist mehr den Initiatoren als der Gesellschaft. Europas Kampf gegen (importierten) Antisemitismus ist am Ende mehr Dichtung als Wahrheit. Wer anderen Kulturen die Feuertaufe der Aufklärung erspart, akzeptiert, dass sich reaktionäres Denken zu einer normativen Kraft in vielen Bereichen der Gesellschaft entwickelt. Europas Eliten haben sich längst mit dieser Entwicklung abgefunden.
Jüdisches Schattendasein in "Sicherheitszonen"
Kein Wunder, dass viele jüdische Gemeinden als "Sicherheitszonen" ein Schattendasein fristen müssen. Von sozialer Normalität keine Spur. Wer die ständige Bedrohung bagatellisiert, leugnet nicht nur die realen Gefahren, sondern führt offenbar ein sehr abgehobenes Leben. Dass viele massive Sicherheitsvorkehrungen bei Veranstaltungen oft gar nicht bemerkt werden, ist der hohen Professionalität der öffentlichen Sicherheit geschuldet.
Doch manchmal reichen selbst diese Maßnahmen nicht mehr. Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, sprach vor kurzem von einem neuen Höchststand an Antisemitismusfällen in Österreich und machte deutlich, dass es im Rahmen antisemitischer Kundgebungen und Vorfälle zu "massiven Übergriffen auf die jüdische Gemeinde kam".
Sicherheit bleibt ein bestimmendes Element für Europas jüdische Bevölkerung. Rebecca Seidler, Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, brachte es einmal auf den Punkt: "Kein jüdischer Feiertag, keine Veranstaltung findet in meinen Gemeinden ohne Polizeischutz und interne Sicherheitsmaßnahmen statt. Wir haben uns daran gewöhnen müssen. Jüdinnen und Juden können in Deutschland nicht unbeschwert frei und offen jüdisch leben." Leider ist dies mehr die Regel als die Ausnahme.
Die US Commission on International Religious Freedom, eine staatliche Einrichtung der USA zur Beobachtung des Zustands der Meinungs- und Gewissens-, sowie der Religions- und Glaubensfreiheit im Ausland erwähnt in ihrem jüngsten Bericht zum Thema Antisemitismus in Europa auch den Punkt der physischen Sicherheit. Einige jüdische Gemeinden der elf exemplarisch ausgewählten Staaten kritisierten in dem Bericht, dass ihre sehr hohen finanziellen Sicherheitsausgaben nicht vom Staat gedeckt würden - offenbar gilt das Grundrecht auf physische Unversehrtheit nicht für alle Bürger in der EU gleichermaßen.
"Stetiger Kampf um die Grundrechte"
Die Anwältin Kati Lang beklagte einst diesen Umstand in Deutschland: "Es geht voran. Aber es kommt wenig aus der Mehrheitsgesellschaft. Der Schutz von Synagogen ist und bleibt ein Flickenteppich. (...) Stattdessen ist das ein stetiger Kampf der Minderheiten um die Gewährleistung ihrer Grundrechte. Dass Juden und Jüdinnen zu Bittstellern in dieser Frage gemacht werden, darf nicht sein: Der Schutz von jüdischem Leben ist nicht etwas, das erbeten werden muss, sondern es ist eine originär staatliche Aufgabe."
Einerseits wird der Sicherheitsaspekt oft sträflich vernachlässigt oder auf verantwortungslose Art kleingeredet, andererseits führt der alleinige Fokus auf Sicherheitsaspekte dazu, dass das jüdische Leben eine Art unfreiwilliges Paralleldasein fristet - zum Schutz vor echten Parallelgesellschaften. Segregation im Namen der Sicherheit. Die einfältige Hoffnung manch europäischer Politiker, der Konsum werde schon alles kitten, erfüllte sich nicht. Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, erklärte einst: "Die jüdische Gemeinschaft muss sich in Europa sicher und zu Hause fühlen können. Wenn uns das nicht gelingt, ist Europa nicht mehr Europa." Es wäre nicht das erste Mal, dass Europa sich selbst aufgibt.