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Die absehbare Koalition politisch heterogener Fraktionen des EU-Parlaments, die die christdemokratische deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen am Dienstagabend zur Präsidentin der EU-Kommission wählt oder ihre Wahl eben verhindert, wird mit Sicherheit nicht mehr oft zusammenstimmen.
Dieses Zweckbündnis aus gemäßigten und strengeren Konservativen, aus Liberalen und Teilen der Sozialdemokraten ist eine Eintagsfliege, geschuldet dem Ziel, andere Kandidaten zu verhindern; es ist eine destruktive Mehrheit, keine konstruktive.
Die meisten Menschen wollen sich von der Macht, die sie beherrscht, ein Bild machen. Sie wollen wissen, wen sie verantwortlich machen können, im Guten wie im Schlechten. Je klarer diese Zuordnung von Verantwortung erfolgt, desto besser für die Demokratie.
Ein freies Spiel der Parteien im Parlament verwischt diese klare Verantwortlichkeit, weil die Mehrheiten ständig wechseln und die Chancen gut stehen, dass am Ende niemand mehr - und jedenfalls kein mitten im Leben stehender Mensch mit Job, Familie, Freunden und Hobbies - mit Gewissheiten zu sagen vermag, wer jetzt genau für und wer gegen welches Gesetz gestimmt hat.
So gesehen tut sich schon Österreichs Demokratie mit der aktuellen Situation im Nationalrat keinen Gefallen - und das Europäische Parlament ist drauf und dran, dieses Wechselspiel der politischen Verantwortlichkeit als fixes Strukturelement zu übernehmen. In Wien ist das "freie Spiel" aller Voraussicht nach nur ein Übergangsphänomen, bis die Wahl im Herbst geschlagen ist und eine neue Regierung feststeht. Dann teilen sich die Abgeordneten wieder auf Regierungs- und Oppositionsfraktionen auf. Hoffentlich.
Ja, sogar für den (unwahrscheinlichen) Fall einer Minderheitsregierung, die sich wechselnde Mehrheiten im Nationalrat sucht, ist sichergestellt, dass mit dem Bundeskanzler und seinen Ministern jemand da ist, den die Bürger haftbar machen können.
Dass es diese Klarheit der Verantwortlichkeit in Europa so nicht gibt, ist nicht die Schuld des EU-Parlaments. Sehr wohl in seiner Macht läge es jedoch, wenigstens bei sich selbst für klare Verhältnisse zu sorgen. Zur stets geforderten Demokratisierung der EU gehört auch eine klare Struktur von Mehrheit und Minderheit im EU-Parlament, wobei sich nur die Mehrheit auf ein politisches Programm zu verpflichten hat. Doch davor schrecken die Fraktionen zurück. Lieber ist ihnen die Unverbindlichkeit eines freien Spiels der Kräfte. Und hinterher klagen wieder alle, dass die Bürger kein Bewusstsein europäischer Politik haben. Wie auch?