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"Antisemitismus ist der Sozialismus der dummen Kerle"

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare
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Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland der "Salzburger Nachrichten".

Karl Marx’ klassischer Befund betrifft nicht den Intelligenzquotienten, sondern die Immunisierung eines Vorurteils gegen "unpassende" Fakten.


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Im KZ Mauthausen eröffnete Bundespräsident Heinz Fischer am Jahrestag der Befreiung eine neue Gedenkstätte und forderte dazu auf, "jeder Form von Antisemitismus mit größter Entschiedenheit entgegenzutreten". An dieser Feier nahmen die Präsidenten Polens und Ungarns, Bronislaw Komorowski und Janos Ader, teil. Nirgendwo ermordeten die Nazis mehr Juden als in diesen beiden Ländern. Trotzdem wühlt dort der Antisemitismus weiter.

Zur gleichen Zeit trat der Jüdische Weltkongress (WJC) in Budapest zu seiner Jahreskonferenz zusammen - in einem Land, in dem die Anhänger der rechtsradikalen Jobbik-Partei Juden verprügeln und bei Demonstrationen "Sieg Heil" brüllen oder "Juden raus" grölen (Regierungschef Viktor Orbán lässt sie gewähren); in dem 430.000 von einer halben Million Juden in den Holocaust getrieben wurden; in dem einer US-Studie zufolge 70 Prozent der Bürger den Juden zu viel Einfluss auf Wirtschaft und Finanzmärkte unterstellen; in dem noch immer die "Protokolle der Weisen von Zion" zirkulieren. Diese gehässige Fälschung "bewies" 1903, dass und wie zionistische Verschwörer die Weltherrschaft an sich reißen und alle Völker unterjochen wollen.

"Eine Lüge muss nur groß genug sein, dann glaubt sie jeder", dozierte Adolf Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels. Mit Lügen schürte er latenten Hass auf die Juden und Ängste vor dem "jüdischen Bolschewismus". Dank Informationsmonopol füllte er mit Lügen (vermeintliche) Wissenslücken des Volkes und keineswegs nur der "dummen Kerle". In zweitausendjähriger Geschichte waren Juden Prügelknaben für die Kreuzigung Jesu bis hin zur "Verseuchen arischen Blutes" durch Mischehen - kurzum für alles, was das vorgeblich christliche Abendland gefährden konnte.

In dieser Tradition steht die im Jahr 2003 von Intellektuellen ("dummen Kerlen"?) in Ungarn gegründete rechtsradikale Jobbik-Partei, die es bei den Wahlen 2010 auf knapp 17 Prozent der Stimmen brachte. Sie peitscht die nationalistische Welle gegen Juden und Roma auf, wettert gegen das "jüdisch Kapital", veranstaltet Krawalle zur Eröffnung des WJC und fordert die Wiederherstellung Großungarns auf Kosten der Slowakei, Rumäniens und Serbiens. Premier Orbán beschwichtigt den WJC mit "null Toleranz gegenüber dem Antisemitismus aus moralischer Verpflichtung", schreitet aber nicht ein. Seine Fidesz-Partei (53 Prozent) braucht nämlich diese Antisemiten, um Änderungen der Verfassung durch das Parlament zu bringen - etwa die Einschränkung der Pressefreiheit oder der Rolle des Höchstgerichts.

Charakteristisch für fundamentalistische Ideologien wie jene der Jobbik-Partei ist die "Psychomechanik" des Vorurteils: Man hat unfehlbar recht, also haben alle anderen unrecht, und man immunisiert sich gegen unerwünschte Fakten. Das schließt Kompromisse oder Bekehrung aus, denn dies wäre eine demütigende Niederlage und ein Verlust des Selbstwertgefühls. Die EU gerät in eine Zwickmühle: Sie könnte zwar über das EU-Mitglied Ungarn Sanktionen verhängen, würde damit aber auch die Jobbik-Propaganda munitionieren.