Der österreichische Komponist aus dem Kreis der Wiener Schule starb vor 75 Jahren unter tragischen Umständen. Ein Rückblick.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Die Nazis nahmen Anton Webern seine Kunst, der Krieg nahm ihm seinen Sohn. Und als er dabei war, seine Kunst und sein Leben wiederzufinden, lief ihm der Tod entgegen. Am Abend des 15. September 1945 hörte der Komponist Cesar Bresgen drei Schüsse, und sogleich hatte er "das Gefühl, als sei etwas sehr Schreckliches geschehen. Man war in Mittersill an Schießereien gewöhnt, aber diese Schüsse kamen so unerwartet, so rasch und so bedrohlich!"
Mittersill im Salzburger Oberpinzgau, seit alters her Kreuzungspunkt wichtiger Ost-West- und Nord-Süd-Verbindungen, war in den Monaten vor und nach dem Kriegsende zum Asylort von Menschen unterschiedlicher Herkunft geworden: "Zug um Zug kamen sie schon während des Jahres 1944 hierher, erst vereinzelt, dann zu ganzen Familien. Sie kamen aus Wien, München, Berlin, ja aus Polen, Ungarn und Rumänien", schreibt Bresgen in seinem Erinnerungsbuch "Mittersill 1945 - Ein Weg zu Anton von Webern".
Bresgen war mit seiner Familie vor den Kriegswirren in der Stadt Salzburg nach Mittersill geflüchtet. "Mittersill galt als überaus sicherer Ort. Obwohl nicht eindeutig zu beschreiben war, was Sicherheit hier bedeutete, fühlte man sich geborgener als anderswo." Gleichzeitig nützte der laut späteren Historiker-Befunden "fleißigste und populärste Komponist der Hitlerjugend" und Verfasser zahlreicher NS-Feiermusiken das abgelegene "Inner Gebirg", um sich vor politischer Verfolgung zu schützen, sich gesellschaftlich, politisch und musikalisch neu zu erfinden.
Kompromisslosigkeit
Für Letztes kam ihm ein anderer Mittersill-Flüchtling entgegen: "Auf dem Weg zum Harlanderbauern inmitten der Wälder hinter Schloß Mittersill habe ich Anton von Webern endlich selber kennengelernt ... Webern stand in einer halb besonnten Lichtung. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen, auch nicht auf einer photographischen Darstellung. Aber es gab keinen Zweifel, das konnte nur Webern sein: schmal und blaß, noch gezeichnet von den Spuren der Erkrankung, die ihn sehr geschwächt hatte."
Der Komponist war mit seiner Familie aus Wien nach Mittersill geflüchtet. Geographischer Endpunkt eines Leidenswegs, der mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begonnen hatte. "Bresgen war aus ganz anderen Motiven in Mittersill gewesen wie Webern", beschreibt Wolfgang Seierl das Zusammentreffen der beiden Komponisten im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Der eine hatte im NS-Regime Karriere gemacht, dem anderen wurde als "Kultur-Bolschewisten" mit dem "Anschluss" Österreichs an Hitler-Deutschland die künstlerische Existenz genommen, die Aufführung seiner Werke untersagt.
Seierl, Komponist aus Wien, ist Mit-Begründer und Leiter von "Kofomi", dem Komponistenforum Mittersill, das sich als "lebendiges Denkmal" für Anton Webern versteht und seit 1996 alljährlich im September ein Festival für zeitgenössische Musik in Mittersill abhält. Seit seinen Studienzeiten ist Seierl von Weberns Werk fasziniert - so wie Cesar Bresgen: "Obwohl er stilistisch ganz anders war und Weberns Musik seine Arbeit nur rudimentär beeinflusste, hat ihn diese Begegnung sein Leben lang nicht mehr losgelassen", sagt Seierl, der Bresgen bei einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung für Webern noch persönlich kennenlernte. Gleichzeitig bestätigt Seierl auch die in Mittersill überlieferte Meinung, dass sich Bresgen damals Webern andiente - nicht nur zu dessen Freude: "Webern lebte sehr zurückgezogen, aus Berichten seiner Familie geht hervor, dass Bresgen Webern auch lästig war." Nichtsdestotrotz spricht aus Bresgens Erzählungen über seine Begegnungen mit Webern Hochachtung für den Meister.
Geboren wurde Webern 1883 als Sohn eines Bergbauingenieurs im Adelsstand in Wien. Sein musikalisches Talent wurde, obwohl der Vater einen agrartechnischen Beruf für den Sohn präferierte, von der Familie gefördert. Von 1904 an besuchte er Kompositionsunterricht bei Arnold Schönberg. Gemeinsam mit ihm und Alban Berg bildete Webern die Dreifaltigkeit der Zweiten Wiener Schule, die den Kompositionsstil der Zwölftontechnik entwickelte. Dabei war Webern "der Fortschrittlichste und Kompromissloseste von den dreien", sagt Seierl.
Mit dieser Kompromisslosigkeit Weberns bei der Umsetzung seiner Prinzipien geht einher, dass seine Werke "weder marktschreierisch noch marktkonform sind", beschreibt Seierl die Musik Weberns: "Sie ist eine Kunst, die sich nicht anbiedert, sie ist komplex, liegt nicht im Mainstream und lässt sich schwer verkaufen." Für seinen Lebensunterhalt musste Webern deswegen auch als Kapellmeister in Bad Ischl, Teplitz, Danzig, Stettin und Prag arbeiten.
Nach dem Ersten Weltkrieg leitete er auch den Wiener Schubertbund, die Wiener Arbeiter-Sinfoniekonzerte und den Arbeiter-Singverein. Ab 1927 war er ständiger Dirigent beim österreichischen Rundfunk. Seine bleibende Bedeutung in der Musikgeschichte begründete Webern jedoch mit seiner Interpretation der Zwölftontechnik, die zur Inspirationsquelle für nachkommende Komponistengenerationen und Ausgangspunkt für die Serielle Musik wurde, einer "musique pure", aufgebaut auf Zahlen- oder Proportionsreihen mit möglichst großer Klarheit.
Höchster Respekt
Für die ihm nachfolgenden Komponistengrößen des 20. Jahrhunderts schuf Weberns Musik ein "Klima, das Chaos ordnete". Der französische Komponist Pierre Boulez nannte Webern den "wichtigsten Orientierungspunkt" für junge Komponisten Neuer Musik nach 1945. Auch Igor Strawinsky, selbst bedeutender Vertreter der Neuen Musik, zollte Webern höchsten Respekt: "Wir müssen nicht nur diesen großen Komponisten verehren, sondern auch einen wirklichen Helden. Zum völligen Misserfolg in seiner tauben Welt der Unwissenheit und Gleichgültigkeit verurteilt, blieb er unerschütterlich dabei, seine Diamanten zu schleifen, seine blitzenden Diamanten, von deren Minen er eine so vollkommene Kenntnis hatte."
Seierl verwendet im Gespräch über Weberns Musik ähnliche Bilder, vergleicht diese mit "wertvollen Kleinoden" und "kleinen Kristallen", die man mit einem feinen Gehörsieb entdecken könne. Laut Bresgen zeigte sich Webern zuversichtlich, dass sich sein Musikverständnis durchsetzen werde: "Wir wissen ja alle nicht, was auf uns noch zukommt", sagte Webern zu Bresgen, beide auf einer Holzplanke neben dem über dem Ort thronenden Schloss Mittersill sitzend: "In fünfzig Jahren vielleicht wird man das alles ganz anders verstehen. Es bricht Neues an, es ist wie eine Morgenluft ... Sie kennen meine Musik nicht. Es wird eine Zeit kommen, da werden schon Kinder sie natürlich finden."
Seierl: "So weit ist es noch nicht, Weberns Musik ist noch immer ein Geheimtipp, aber das Bewusstsein dafür wächst." Zur Tragik von Weberns Tod gehört für Seierl, dass er in dem Moment starb, als sich "erste Lorbeeren" abzeichneten und ihn eine Professur in Wien erwartete: "Webern wäre eine extreme Bereicherung für den Fortgang der Neuen Musik gewesen. Außerdem hat er sein Alterswerk nicht mehr schreiben können. Bei seinem künstlerischen Potential hätte er da sicher Großes geleistet - das wäre ein Wahnsinn gewesen."
Dazu kam es nicht. Ein Ausläufer des Kriegswahnsinns war schneller, erwischte Webern, als sich nach Jahren der sozialen Isolation, der Krankheit und der Trauer ein "Schien mir’s, als ich sah die Sonne" - so der Titel einer seiner Kompositionen - am Lebenshorizont zeigte. "Zündender Lichtblitz" heißt ein anderes Werk von ihm. Das glimmende Licht seiner Zigarre oder ihr Anzünden dürfte ausschlaggebend für die Verkettung tragischer Umstände gewesen sein, denen Webern zum Opfer fiel. Der US-Musikforscher Hans Moldenhauer recherchierte 1959 in Mittersill, bei Weberns Familienangehörigen und bei US-Militärstellen akribisch zum Todeshergang und publizierte seine Ergebnisse im Buch "The Death of Anton Webern".
"Es ist aus"
Der Komponist war mit seiner Frau am 15. September zum Essen bei seiner Tochter und ihrem Mann, die ebenfalls in Mittersill Unterschlupf gefunden hatten, eingeladen. Sein Schwiegersohn schenkte Webern eine amerikanische Zigarre. Webern freute sich sehr darüber, versprach die Rauchware doch einen lange Zeit entbehrten Genuss. Um die schlafenden Enkel nicht zu stören, ging er vor das Haus, um "einige Züge" zu rauchen. "Mein Mann war nur zwei bis drei Minuten draußen", gab Wilhelmine Webern zu Protokoll, "als wir drei Schüsse hörten." Webern torkelte ins Haus zurück, sagte: "Ich bin getroffen", und starb kurz darauf mit den Worten: "Es ist aus."
Was war passiert? Weberns Schwiegersohn war in Schwarzmarktgeschäfte involviert. Raymond Bell, Koch der in Mittersill stationierten US-Besatzungssoldaten, schloss mit ihm ein Scheingeschäft ab. Bei der Übergabe der Waren ließ er seine Tarnung fallen und verhaftete gemeinsam mit einem anderen US-Soldaten Weberns Schwiegersohn. Dieser Deal samt Verhaftung fand in einem anderen Raum statt, Webern bekam davon nichts mit.
Ahnungslos stand er rauchend vor dem Haus, als Bell in ihn hineinrannte. Der Amerikaner wollte einen Dolmetscher und Verstärkung holen, fühlte sich von der Person vor dem Haus mit Lichtkegel angegriffen und schoss Webern "in Notwehr" nieder. Das Ereignis zerstörte auch Bell, ließ ihn zeit seines Lebens nicht mehr los: "Immer wenn er betrunken war, sagte er: ‚Ich wünschte, ich hätte diesen Mann nicht getötet‘", schrieb Bells Frau in einem Brief an Moldenhauer. 1955 verstarb Bell an den Folgen seiner Alkoholsucht.
"Die Wälder wurden einsam", beschließt Bresgen seine Erinnerungen an Webern, "und es war, als sei für immer eine Musik verstummt, die vorher in ihnen geschwebt hatte." 75 Jahre nach Weberns Tod ist seine Musik jedoch in Mittersill präsent. Jeden Samstag in den Mittagsstunden spielt am Stadtplatz ein computergeneriertes Glockenspiel Weberns unvollendetes Opus 32 - jedes Mal in anderer Variation.
Womit sich eine Zuversicht Weberns bewahrheitet, über die Bresgen schreibt: "Wenn Webern von der Zukunft sprach, ging ein Leuchten über sein Gesicht, das habe ich mehrmals beobachtet."
Tipp: Das Komponistenforum Mittersill zum Gedenken an Anton Webern findet heuer vom 14. bis 21. 9. statt. www.kofomi.com
Literaturhinweis: "Anton Webern. Briefwechsel mit der Universal-Edition". Herausgegeben von Julia Bungardt. Verlag Lafite, Wien 2020, 368 Seiten, 58,– Euro.
Wolfgang Machreich ist freier Journalist und ein gebürtiger Mittersiller.