Erinnerung an eine Reise in die Ost-Ukraine vor 35 Jahren, als jene noch zur Sowjetunion gehörte - auf den Spuren des legendären "Helden der Arbeit", dem Synonym für Übererfüllung der Norm.
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Donezk - ist das nicht die Stadt, in der ich mich vor 35 Jahren eine knappe Woche herumgetrieben habe, um einem der glorreichsten Idole der alten Sowjetunion nachzuspüren? Die Rede ist von Alexej Grigorjewitsch Stachanow (1906-1977), der Nr. 1 unter den "Helden der Arbeit". Ich schrieb damals an meinem Buch "Irdische Götter"; die Kapitel über den Callas-Tempel von Desenzano, Elvis Presley’s Graceland und die Kennedy-Homestead im südirischen Dunganstown verlangten nach einem Kontrapunkt in einem der Kernländer des real existierenden Sozialismus.
"Idole und ihre Kultstätten" lautete der Untertitel meiner Bestandsaufnahme - müsste sich da die "Stadt des Arbeitsruhms", das eine Million Einwohner zählende Donezk, nicht vorzüglich in mein Konzept einpassen?
Wohnblocks und Kohlenschächte
21. März 1979.
Ich bin schlecht ausgerüstet, in der Eile des Aufbruchs habe ich nur den Kleinen Polyglott im Handkoffer, er erwähnt das Ziel meiner Reise mit keinem Wort. Dabei ist Donjetsk (wie es damals noch geschrieben wurde, Anm.) - in zaristischer Zeit Jusowka, bis 1961 Stalino - die zwölfgrößte Stadt der UdSSR. Aber westliche Reiseführer entscheiden nach anderen Kriterien: Ohne Kremlmauer und Potemkintreppe kommst du da nicht hinein, Fördertürme und Kohlenhalden lassen sich schwerlich als touristische Fünfsternattraktionen verkaufen.
Gewiss, auch die andere Seite macht Fehler. "Jeder, der in diese Stadt kommt, verliebt sich in sie auf den ersten Blick", schwärmt der Texter des offiziellen Donjetsk-Bildbandes. Den möchte ich sehen, dem derlei widerfährt. Da kann er aus dem tiefsten Sibirien anreisen: Donjetsk bleibt Donjetsk. Kohlenschächte und Wohnblocks. Und die Kohlenschächte sind das Schönere.
Ein Intourist-Taxi bringt mich von Scheremetjewo, dem internationalen, zum Moskauer Binnenflughafen Wnukowo. Die Fahrt dauert über eine Stunde, aber ich habe keinen Grund zur Eile: Die Maschine nach Donjetsk, auf die ich gebucht bin, startet erst lange nach Mitternacht. Wie mag die Bodenhostess, die mich in tiefdunkler Nacht aufs Rollfeld geleitet, unter all den Aeroflot-Vögeln den richtigen finden? Ich verrate es Ihnen: Sie fragt sich durch, beim dritten oder vierten Piloten haben wir Glück.
Schwaches Licht an Bord: Ich nehme ein paar Jungmütter mit Babys wahr, den Rest bilden Männer von jenem rauhen Typ, den man sich von einer "Stadt des Arbeitsruhms" erwartet. Mein Sitznachbar liegt in tiefem Schlaf: Schnarchlaute und Knoblauchschwaden. Gegen 3 Uhr früh landen wir: missmutig, übernächtigt. Was wird jetzt sein? Man weiß ja auf Reisen in die Sowjetunion vorher nie, wo man einquartiert sein wird. Man weiß nur: Man wird abgeholt. Abgeholt - zu dieser unmöglichen Stunde? Ich würde es meinem Todfeind nicht zumuten. Aber da steht sie auch schon, gleich beim Eingang zum Flughafengebäude, und lächelt ihr gequältes "Are you Mister Grieser?" Rimma, mein Schutzengel von Intourist.
Unglaublich, wieviele dienstbare Geister im Hotel Drushba ("Freundschaft") auch zu dieser Stunde auf den Beinen sind, sogar Tee wollen sie mir noch aufs Zimmer bringen, ich winke ab, jetzt nur rasch ins Bett.
"Stadt des Arbeitsruhms" - schon nach den ersten paar Schritten durch das morgendliche Donjetsk weiß ich: Die Sache steht nicht bloß auf dem Papier. Ich komme an einem riesigen Photoatelier vorüber: Arbeiterporträts, die Revers gespickt mit Anstecknadeln, Betriebsmedaillen, Parteiorden. In der Eingangshalle der Universität großformatige Schautafeln: Produktivitätskurven und Leistungsbilanzen, Appelle zu weiterer Steigerung, zu anhaltender Mehrung des Ruhms.
Auf einer der Rasenflächen des Stadtparks ein aufgeschlagenes Buch, es ist eine überdimensionale Steinmetzarbeit, immer wieder frisch grundiert und mit den neuesten Siegernamen versehen: den Siegernamen aus den tausend und abertausend Wettbewerben - irgendwas läuft da immer.
Rimma, meine Betreuerin, stammt selber aus dem "Milieu": ihr Vater ist Montaningenieur, ihr Mann hat in einer der 24 Gruben der Stadt mit der Computerüberwachung zu tun. Die Einfahrt ins Bergwerk gehört zu ihren Standardprogrammen, und meist sind es Fachleute, die sie bis unmittelbar an die Streben zu begleiten und denen sie in tausend Meter Tiefe Dolmetscherdienste zu leisten hat. Daran gemessen, bin ich ein leichter Fall: Auch wir durchwandern die Stollen der Grube "Maxim Gorki", beobachten die Kumpel bei ihrer Arbeit, aber ich peinige Rimma nicht mit Fachfragen nach dem letzten technischen Detail. Habe ich nicht Mühe genug, mit meiner Besucherausrüstung zurechtzukommen? Wer würde glauben, welche Probleme allein das fachgerechte Wickeln der Fußlappen aufwirft!
Anschließend Privatissimum in der Chefetage. Rimma organisiert eine Sonderlektion zum Thema Arbeitsruhm. Der Direktor der Grube, ein drahtiger Mann in den Fünfzigern, dem man den Aufstieg vom einfachen Kumpel ansieht, hat noch den guten alten Stachanow persönlich gekannt.
Er war es ja gewesen, mit dessen spektakulärem Rekord - noch in der Ära Stalin - der eigentliche Arbeiterheldenkult eingesetzt hat: in jener Nacht vom 30. zum 31. August 1935, als der Dreißigjährige, auf Anhieb und im Alleingang, seine Arbeitsnorm ums Vierzehnfache übertraf, er, der Kleinbauernsohn aus dem Orlowschen, der, der Plackerei in der Kulackenmühle überdrüssig, in der Donbass-Grube "Irmino" sein Glück versuchte, zunächst als Pferdetreiber, Huntenbremser und Kohlenschipper, dann zum Häuer aufstieg und schließlich, indem er die Arbeit am Hammer von der des anschließenden Verzimmerns der Streben streng trennte und das Brigadensystem einführte, atemberaubende Produktivitätssteigerungen erzielte und damit noch zu Lebzeiten das Wunder vollbrachte, den Namen eines einfachen Arbeiters, vielleicht des ersten überhaupt, in die Schulbücher seines Landes zu katapultieren und in die Lexika der ganzen Welt. Stachanow - das war nun nicht mehr bloß der Name irgendeines Kumpels aus der Ukraine, sondern ein stehender Begriff: für Übererfüllung der Norm.
Im Heimatmuseum von Donjetsk, so erfahre ich, gebe es eine eigene Stachanow-Abteilung, in Thorez, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1977 gelebt hat, stehe sein Denkmal, die Grube Nr. 243 trage seinen Namen, desgleichen eine der Bergarbeiterschulen der Ukraine, und die Bergbaustadt Kadiewka habe man 1978 sogar in Stachanow umbenannt. Überall im Lande gebe es Stachanowstraßen, auch in einem der neuen Viertel von Donjetsk sei eine in Planung. In den Grundkursen seines Bergwerks werde das Phänomen Stachanow regelmäßig gewürdigt, 1975, zum Vierzig-Jahr-Jubiläum der historischen Tat, sei in sämtlichen Sowjetrepubliken ein Wettbewerb zur Erringung des Stachanow-Preises ausgeschrieben worden, und seine Reden, mit denen Stachanow persönlich die Arbeiter von Donjetsk dazu angefeuert habe, seinem Beispiel nachzueifern, sind dem Genossen Direktor noch im Ohr.
Und wie steht es um die persönlichen Vergünstigungen, die einem Superhelden wie Stachanow doch wohl auch zuteil geworden sein müssten? Bei all der Plackerei nichts als Verdienstmedaillen, Zeitungshuldigungen, Orden? Nur zögernd rückt mein Gewährsmann mit den Details heraus: höhere Lohnstufe, Wohnung mit Telefonanschluss, bessere Urlaubs- und Kurbedingungen, Auto mit Fernsehanschluss, Dauerfreikarte für sämtliche Veranstaltungen im Kulturpalast. Sogar ein eigenes Reitpferd.
Letzter Abend im Hotel Drushba. Im Restaurant ist für eine Reisegesellschaft gedeckt, die am Nachmittag in Donjetsk eingetroffen ist. Für Einzeltouristen wie mich ist kein Platz vorgesehen. Um zu einem Gedeck zu gelangen, bleibt mir nur die Möglichkeit, mich unter die Gruppe zu schmuggeln, mich als einen der ihren auszugeben. Es ist ein Gemeinschaftsausflug von Lehrerinnen und Lehrern aus dem Bruderstaat Tschechoslowakei, sie nehmen mich ohne weiteres in ihre Mitte auf, es wird ein gelungener Abend. Nach dem fünften Wodka frage ich sie, warum sie, von Kiew kommend und nach Jalta weiterreisend, ausgerechnet das düstere Donjetsk als dritte Station gewählt hätten. Ja, so sei das eben bei solchen Reisen, Donjetsk sei ihnen von oben vorgeschrieben worden: Antreten zum Stachanow-Kult.
Am nächsten Morgen lässt mich Rimma früher als vereinbart wecken. Sie hat unangenehme Nachrichten für mich, es heißt rasch umdisponieren. Wegen anhaltenden Schlechtwetters falle das Flugzeug nach Moskau aus - ob sie versuchen solle, mir einen Schlafwagenplatz zu verschaffen?
Ein Stachanow der Amtsstuben
Die Fahrt, obwohl 17 Stunden, ist weniger beschwerlich, als ich befürchte. Die DDR-Waggons haben jeden nötigen Komfort, an die derben Umgangsformen der Schaffnerinnen kann man sich ebenso gewöhnen wie an ihren übersüßten Tee. Ich teile mein Abteil mit einem ukrainischen Technikstudenten, der in einem fort Bilderrätsel löst, dessen betulicher Mutter, die ihm laufend die dafür nötige Kraftnahrung zuführt, und einem etwa dreißigjährigen Franzosen, der von einem seiner zahlreichen Versuche heimkehrt, seine Braut, Assistentin an einer Röntgenstation im Bezirk Donjetsk, für die Ausreise nach Frankreich freizuboxen.
Auch diesmal hat es nicht geklappt, nun hofft er auf das nächste Mal. Immer, wenn er schon glaubt, es sei endlich so weit, fehlt schließlich doch noch irgendein Papier. Er schildert mir seinen Kreuzweg - zwei Jahre geht das nun schon so. Aber er gibt nicht auf. Ein Schwerstarbeiter in der Bezwingung sowjetischer Bürokratie. Ein Stachanow im Abklappern von Amtsstuben. Ein Stachanow, der auf keinen Orden reflektiert. Sondern nur auf die Liebe einer kleinen Ukrainerin. Das könnte so einfach sein. Und ist doch so schwer. Ich wünsche ihm viel Glück.
Dietmar Grieser, geboren 1934, lebt als Schriftsteller und literarischer Reporter in Wien. Zuletzt ist von ihm das Buch "Landpartie" (Amalthea, Wien 2013) erschienen. Am 18. Juni erhält er das "Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Repu-blik Österreich".