Zum Hauptinhalt springen

Anvisiert, getroffen

Von WZ-Korrespondentin Martyna Czarnowska

Politik

Monatelang lebte Belgien mit einer latenten Bedrohung.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Brüssel. Der Eingang ist leicht zu verfehlen. An der Fassade ist zwar ein "Metro"-Schild befestigt, doch der Zugang zur U-Bahnstation Maelbeek ist sogar unscheinbarer als die Zufahrt zur danebengelegenen Parkgarage. Die Treppenabgänge zu den Bahnsteigen sind langgezogen und eng; viel Platz gibt es auch in der Halle darüber nicht. Das Gedränge ist daher groß; am Morgen, wenn die Menschen in die umliegenden Büros eilen, und am späteren Nachmittag, wenn sie wieder nach Hause hasten. Am Wochenende ist die Station, im Gegensatz zu vielen anderen im Zentrum Brüssels, kaum genutzt, und die vierspurige Straße, wo sonst der Berufsverkehr tost, ist fast leer. Die Bars, in denen die Beamten ihren Kaffee zum Mitnehmen kaufen, sind geschlossen.

Es ist ein Büroviertel voller schmuckloser Glas- und Betonbauten, in dem sich die Station Maelbeek befindet, die Zielscheibe eines Terroranschlags wurde. Aber es hat eine Besonderheit: Es beherbergt so viele EU-Institutionen wie kaum ein anderes. Nur fünf Minuten zu Fuß entfernt liegt das Ratsgebäude, wo die EU-Minister, die Staats- und Regierungschefs ihre Treffen abhalten. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite hat die EU-Kommission ihren Sitz, jene Behörde, die Vorschläge zu Gesetzen macht, die in ganz Europa gelten sollen. Zwischen diesen beiden Gebäuden, ein paar hundert Meter vor der Maelbeek-Station, errichtete die Polizei ihre Sperren, um den Tatort abzuriegeln. Das Foyer eines Hotels um die Ecke wurde flugs in eine provisorische Aufnahmehalle für Verletzte umgewandelt. Normalerweise steigen dort Gäste ab, deren Aufenthalt ebenfalls mit den EU-Institutionen verbunden ist.

Verschrienes Molenbeek

Die Verknüpfung war daher naheliegend, für etliche internationale Medien sowie Politiker: Die Attacke sei nicht nur eine auf Menschen, sondern auch auf Symbole gewesen. Immerhin ist Brüssel die Hauptstadt der Europäischen Union; ihr galt der Angriff ebenfalls. "Terror im Herzen Europas" drängte sich als Schlagzeile vielen auf - auch wenn die Organe der EU, die Diplomaten, die Beamten und Mitarbeiter sonst immer wieder gern als blutleere Bürokraten geschmäht werden.

Aber die Menschen, die in Belgien leben, haben nicht nur diese, auf die Institutionen gerichtete Sichtweise. Brüssel ist für sie ihre Hauptstadt, der Ort, an dem sie leben oder arbeiten. Viele von ihnen stammen nicht von da, sondern sind vor Jahrzehnten hierhergezogen, aus anderen europäischen oder afrikanischen Ländern, aus Portugal oder Polen, aus dem Kongo oder aus Marokko. Hinzu kommen die EU-Europäer: die Diplomaten, Beamten und Journalisten, die für kurze oder längere Zeit nach Brüssel geschickt werden.

Dass der multikulturelle Charme der Stadt oft nur ein oberflächlicher ist, war etlichen zwar bewusst. Doch wie tief die Gräben zwischen den sozialen Schichten und ethnischen Gruppen in der Realität sein können, brachten die Berichte über das Viertel Molenbeek in Erinnerung. Der Stadtteil ging als "Islamisten-Hochburg" in die Zeitungschroniken ein, nachdem im November des Vorjahres Spuren der Attentäter der Pariser Terroranschlägen dorthin geführt hatten. Dort auch wurde vor wenigen Tagen der mutmaßliche Terrorist Salah Abdeslam gefasst. Radikalisierung von Jugendlichen ohne sonstige Perspektiven, Rekrutierung von potenziellen Verbrechern, Waffenhandel und andere illegale Geschäfte - Molenbeek stand auf einmal für all das. Der Staat selbst musste sich viele Vorwürfe gefallen lassen: Ein Staat, der mit seiner eigenen komplizierten föderalen Struktur, der Aufsplitterung in einen flämischen und französischsprachigen Teil, mit Kompetenzgerangel und Kooperationsproblemen beschäftigt ist, könne nicht rasch auf Herausforderungen wie Gettoisierung oder Radikalisierung reagieren.

Soldaten in der U-Bahn

Zu diesem Zeitpunkt, spätestens im November, war da die bisher unterschwellig geahnte Terrorgefahr in Brüssel fassbarer geworden. Sie zeigte sich in der Gestalt von Soldaten, die in grün-gelb-braun gescheckten Uniformen, mit dem Gewehr in der Hand durch belebte Straßen patrouillierten. Zweier- oder Dreiergrüppchen, die vor Botschaften und EU-Institutionen Wache standen, lösten einander ab. An so mancher Ecke waren gepanzerte Fahrzeuge zu sehen. Im EU-Viertel waren sie allerdings mittlerweile ein gewohnter Anblick. Schon nach den Anschlägen auf die Pariser Zeitschrift "Charlie Hebdo" vor gut einem Jahr wurden die Sicherheitsvorkehrungen dort verstärkt.

Doch die höchste Terrorwarnstufe wurde nach den Attacken in Frankreich im November verhängt. Da fuhren die Soldaten teilweise auch in den U-Bahnen mit - als diese nach mehreren Tagen Pause wieder ihren Betrieb aufnahmen. Die Schulen blieben kürzer geschlossen.

Aber die Menschen mussten schließlich ihrem Alltag nachgehen, in der Arbeit erscheinen, die Kinder wieder in die Schule bringen - und sich mit dem Anblick der Soldaten auf den Straßen arrangieren. Wir, die hier leben, mussten es tun.

Die Anschläge auf dem Flughafen Zaventem und in der Metro-Station Maelbeek konnten dennoch nicht verhindert werden. Damit müssen wir erst umgehen lernen.