Die Neuerscheinung "Mut zum Recht!" von Oliver Scheiber ist ein Gesamtkunstwerk und ein Manifest zugleich.
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Dieses Plädoyer für einen modernen Rechtsstaat "Mut zum Recht!" von Oliver Scheiber ist für mich ein Gesamtkunstwerk und auch ein Manifest, nämlich ein Appell für die endlich durchzuführenden notwendigen Reformen in der Justiz. Der vormalige Kabinettschef einer Justizministerin hat durch diese Position den Überblick beziehungsweise Durchblick über den gesamten Justizapparat, nunmehr ist er Gerichtsvorsteher eines Wiener Bezirksgerichtes und sieht die Probleme der Justiz im Alltag.
Strukturiert ist dieses Plädoyer in zehn Thesen, die Scheiber aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung entwickelt hat. In der ersten These beweist er, dass die Kunst der Justiz wichtige Impulse liefert. Die Kunst spendet Anregungen und liefert oft Kritik. Er beschreibt aus der berühmten Erzählung des Literaturnobelpreisträgers Anatole France "Crainquebille", wie sich oft ein kleiner Irrtum eines Justizorgans im Laufe der Jahre zur Tragödie eines Menschen (hier eines französischen Staatsbürgers) ausgeweitet hat.
Vernetzung mit der Kunst
Ich möchte nunmehr einen kleinen Beitrag zu diesem aufsehenerregenden Fall in Frankreich liefern und mache auf den österreichischen Autor Otto Hans Ressler mit seiner großartigen Novelle "Die Verleumdung", erschienen in der Edition Splitter in Wien, aufmerksam, die historische Hintergrundfolie des vergessenen Antisemitismus vor 1914 in der Habsburgermonarchie. Die Hauptfigur, der Fabrikant Baron Salomon Schön, klagt den rechtsradikalen Reichsratsabgeordneten Gerwald Holomek wegen Rufschädigung und Ehrenbeleidigung. Vieles aus dem beschriebenen Gerichtsverfahren erinnert an die Jetztzeit, weil Ressler Zitate auch von lebenden Politikern verwendet hat.
Scheiber fordert zu Recht, dass die Justiz die Vernetzung mit der Kunst für die Aus- und Fortbildung der Richter stärker nutzen soll.
In der zweiten These wünscht sich der Autor ein Mehr an Gerechtigkeit, indem die leider noch immer vorhandene Klassenjustiz durch eine neue Kultur innerhalb der Justiz eine stärkere Ressourcenverteilung bewirken soll. Leitbild der Justiz müssen der gleiche einfache Zugang zum Recht für alle und das faire Verfahren sein. Im geltenden Zivilverfahren herrscht durch die hohen Gerichtsgebühren ein Ungleichgewicht, im Strafverfahren werden auffallend oft sogenannte "heikle" Fälle wegen angeblicher Komplexität eingestellt, oder es wird eben bis zur Verjährung ermittelt. Die Justiz muss innerhalb und außerhalb des Gerichtssaals verständlich, fair und emphatisch agieren. Das bedeutet mit möglichst wenig Formalismen kommunizieren, einen effizienteren Rechtsschutz und die Gelegenheit für jedermann, ausführlich angehört zu werden.
In der dritten These stellt der Verfasser mit Recht fest, wie wichtig Leitfiguren sind. Derzeit fehlen in der österreichischen Justiz solche Persönlichkeiten, die genügend engagiert sind und im System innovativ wirken. Schon bei der Grundausbildung sollte die Kritikfähigkeit und Selbstreflexion gestärkt werden. Mein Beitrag dazu ist der Umstand, dass jeder Richter genügend Kreativität haben muss, um sich (und den Parteien) den Ärger mit dem Sachverständigen(un)wesen zu ersparen. Die Sachverständigen haben mich oft an reine "Lohnschreibereien" erinnert, wobei ich nicht unbedingt mangelnde Ethik behaupten möchte, jedenfalls aber mangelnde Qualität und die jeweilige Abhängigkeit vom Auftraggeber - klassischer Fall sind die von den Staatsanwälten bestellten Sachverständigen.
Imponierend ist der Gedanke von Scheiber im Familien-, Jugendstraf- und Erwachsenenschutzrecht runde Tische einzuführen, um eine gemeinsame Lösungssuche aller Beteiligten zu ermöglichen.
In der vierten These behandelt Scheiber die großen Probleme im Zusammenhang mit dem Faschismus und schildert den Fall Gross. Zu meiner Verwunderung als damaliger Verteidiger des Heinrich Gross weist Scheiber nach, dass erst eine Weisung des damaligen Justizministers notwendig war, aufgrund des erdrückenden Beweismaterials Gross anzuklagen. Die Republik hätte schon längst Gross anklagen müssen, und das erkennende Gericht hätte die Möglichkeit gehabt, ein Beweisverfahren durchzuführen. Tatsächlich war es so, dass ganz im Gegenteil Heinrich Gross jahrzehntelang der Hauptsachverständige der Justiz im Landesgericht für Strafsachen Wien war.
Mängel im Strafrecht
Die These fünf ist ein Narrativ betreffend die Mängel im Strafrecht bezüglich der aktuellen gesetzlichen Bestimmungen. Maßnahmen für eine Reform sind folgende:
Befreiung des Rechtsmittelverfahrens vom Formalismus der Nichtigkeitsgründe; obligatorische anwaltliche Vertretung in allen Strafverfahren, also nicht nur wie bisher in der Untersuchungshaft, sondern auch in der Strafhaft.
Gerade im Verfahren bei der bedingten Entlassung habe ich selbst noch festgestellt, wie oft nicht genügend qualifizierte Sprengel- und Rechtshilferichter den Antrag eines Delinquenten in wenigen Minuten abgeschmettert haben, weil er ohne Anwalt und nach jahrelanger Verbüßung einer Strafe geschwächt und im Hinblick auf die Autorität dieses Richters sprach- und machtlos war. Unter dem Vorwurf der Nicht-Qualifikation erblicke ich die nicht genügend geschärfte Empathie und die totale Überlastung vieler Richter in zahlreichen Gerichten Österreichs. Scheiber fordert die Vernetzung der Gerichte mit den Sozialarbeitern und den Forschungseinrichtungen, und es sollte endlich ein forensischer Lehrstuhl eingerichtet werden.
Für mich nicht überzeugend ist Scheibers Forderung nach der Schaffung dreier statt wie bisher zweier Instanzen, weil durch die bisher unrichtige Einschätzung der Bedeutung der Justiz nicht einmal genügend Mittel für die korrekte Gestaltung zweier Instanzen zur Verfügung stehen.
In der These sechs behauptet Scheiber, dass Europa unser Rechtssystem verbessert. Mir fehlt allerdings ein europäischer Kanon in der Justiz. Seine Forderung, die Justiz sollte in Brüssel verstärkt eigene Gesetzesinitiativen einbringen und so den europäischen Rechtsraum stärker mitbestimmen, finde ich realitätsfremd, weil Österreich allein ohne die vorherige Absprache mit größeren und mächtigeren Staaten nichts bewegen kann.
In der siebenten These beschäftigt sich Scheiber mit der Sprache und Kommunikation der Justiz, also dem Zugang zum Recht. Das Setting ist generell zu modernisieren.
Leider wird der juristische Nachwuchs an den Universitäten zur Unverständlichkeit erzogen. Endlich muss als Kernkompetenz der Rechtsberufe die Fähigkeit, juristische Sachverhalte allgemein verständlich auszudrücken und sich einer einfachen Sprache zu bedienen, erkannt werden. Die Justiz müsste eine stärkere Öffentlichkeitsarbeit an den Tag legen und Public-Relation-Profis einbinden. Dazu gehören eine mehrsprachige Internetseite und der Ausbau der Servicestellen, ebenso eine Zusammenarbeit der Justiz mit der Sprach- und Kommunikationswissenschaft.
In der achten These fordert Scheiber eine nicht nur räumliche Trennung von Staatsanwaltschaften und Gerichten, also keine Unterbringung im selben Gebäude, sondern auch keine öffentliche Vertrautheit von Richtern und Staatsanwälten.
Scheiber postuliert zu Recht, dass Staatsanwaltschaften über Anträge der Polizei oder Gerichte über Anträge der Staatsanwaltschaften - wie oft nicht üblich - über telefonische Ansuchen möglich sein sollen. Aufgrund der modernen Technik entsteht auf diese Art und Weise keine Zeitverzögerung durch eine schriftliche Erledigung.
Einen großen Fortschritt stellt die audiovisuelle Aufzeichnung aller Einvernahmen und Verhandlungen dar. Für alle Asyl- und Strafverfahren fordert er eine obligatorische unabhängige Rechtsvertretung.
In der neunten These ist das Narrativ eine politische Justiz, gemeint wohl gesellschaftspolitisch und nicht parteipolitisch oder gar ideologisch determiniert. Allerdings ist durch das Weisungsrecht des Justizministers die Unabhängigkeit der Justiz nicht gewährleistet. Trotz der Einführung des sogenannten Weisenrates, übrigens ein Fremdkörper in unserem System, sowie der nunmehr notwendigen Schriftlichkeit der Begründung der Weisung, bleibt weiterhin die mögliche Gefahr eines vorauseilenden Gehorsams bestehen. Ich, Lehner, fordere die Abschaffung der Dienstbesprechungen.
Richter als Spiegel
In der zehnten These ist der Kanon, dass die Justiz ihre Unternehmungs- und Kommunikationskultur stark verdichten muss, da durch die Digitalisierung und Globalisierung alles in Bewegung ist. Scheibers Vorschlag, dass die Richter ein Spiegelbild der Zusammensetzung der Bevölkerung darstellen sollen, gefällt mir sehr.
Der derzeitige Justizminister, Clemens Jabloner, stellte den stillen Tod der Justiz in den Raum. Der Präsident des Landesgerichts für Strafsachen Wien, Friedrich Forsthuber, ruft zur Rettung des Rechtsstaates auf. Der engagierte Staatsanwalt Bernd Ziska meint, " der Patient Justiz liegt im Wachkoma", und ich erblicke "high noon".
Die Legisten des Justizministeriums sollen sich Oliver Scheiber als Vorbild nehmen, der Text seines Werkes ist für jedermann verständlich und nicht dadaistisch. Mögen seine Vorschläge so rasch wie möglich umgesetzt werden.