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Ära Erdogan ist kurz vor der Verlängerung

Von Martyna Czarnowska

Politik

Der türkische Präsident hat gute Chancen, beim Votum am Sonntag im Amt bestätigt zu werden. Einer der Gründe ist die Loyalität der Wähler.


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Kemal Kilicdaroglu hat noch schnell eine Klage eingereicht. Gegen Recep Tayyip Erdogan. Die zwei türkischen Politiker treten am Sonntag zu einer Stichwahl an. Der Oppositionsführer will den Präsidenten an der Macht ablösen. Und in den letzten Tagen vor dem Urnengang hat er eine härtere Gangart eingelegt. So versprach Kilicdaroglu, die Millionen syrischer Flüchtlinge, die in die Türkei leben, rasch wieder zurückzuschicken. Ebenso ließ er nicht auf sich sitzen, dass ihm Nähe zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterstellt wurde. Genau das wurde in einem vor kurzem veröffentlichten Video suggeriert, das zeigen soll, wie ein PKK-Kommandant zur Unterstützung der Opposition aufruft.

Deswegen folgten die rechtlichen Schritte gegen Erdogan, der das Video auf seinen Wahlkampfveranstaltungen gezeigt und später eingeräumt hatte, dass es sich um eine Montage handle. Der Staatschef soll auf 50.000 Dollar verklagt werden.

Nicht von ungefähr stellt Erdogan eine Verbindung zwischen Kilicdaroglu und der als Terrororganisation eingestuften PKK her. Er richtet sich damit an nationalistische Wähler, die die kurdischen Kämpfer gleichsetzen mit dem generellen Ringen der Kurden um Anerkennung und Gleichberechtigung - und dem sie mit Misstrauen oder gar Ablehnung begegnen. Ebenso sind sie für die Abschiebung von Flüchtlingen.

Werben um Stimmen aus nationalistischem Lager

Um diese Wähler aber warben zuletzt sowohl Erdogan als auch Kilicdaroglu. Bei der ersten Runde der Präsidentenwahl vor zwei Wochen lagen sie fünf Prozentpunkte auseinander, wobei der Amtsinhaber nur knapp seine Bestätigung verpasst hat. Er erhielt rund 49,5 Prozent der Stimmen. Nun hat er auch die Unterstützung des Drittplatzierten bei dem Votum, Sinan Ogan, bekommen, der sich eben vor allem an nationalistische Wähler gerichtet hatte.

Nicht nur deswegen schwinden die Chancen Kilicdaroglus, Erdogan nach gut zwanzig Jahren an der Regierungs- und Staatsspitze zu verdrängen. Schon beim Urnengang am 14. Mai zeigte sich, dass die Opposition, die ihre Kräfte in einer Allianz von sechs Parteien gebündelt und sich auf einen Spitzenkandidaten geeinigt hatte, Erdogan nicht einfach schlagen kann. Auch die Parlamentswahl, die gleichzeitig mit dem Votum über den Präsidenten stattfand, endete mit einer herben Enttäuschung für die Opposition und jene Türken, die sich einen politischen Wechsel erhofft haben. Denn Erdogans AKP mit ihren islamischen Wurzeln wurde zwar geschwächt, kann aber weiterregieren.

Anscheinend werden die politischen Verfehlungen der letzten Jahre und Monate nicht Erdogan angelastet. Die Wirtschaftskrise mit einer Inflation von zeitweise 85 Prozent im Vorjahr, das Missmanagement der Behörden nach den Erdbeben im Februar, die Schwächen des zentralisierten Staates - all das hielt die Hälfte der mehr als 60 Millionen wählenden Türken nicht davon ab, dem Präsidenten erneut ihre Stimme zu geben.

Es ist unter anderem Loyalität, die sie dazu bewegte. Etwas abgestraft wurde die Partei, doch nicht unbedingt das Regierungslager, da die rechtsnationalistische MHP, die mit der AKP eine Koalition bildet, überraschend zehn Prozent der Stimmen gewann. Doch zu Erdogan halten noch immer viele Bürger, wie Senem Aydin Düzgit von der Sabanci Universität in Istanbul erklärt. "Die Menschen denken sich: Gut, es ist derzeit schwierig. Aber unter Erdogan wurde auch viel erreicht", sagte die Politologin bei einer Podiumsdiskussion des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (OIIP).

Auch seien die ökonomischen Fragen, die viele Experten im Vorfeld der Wahlen als entscheidend bezeichnet hatten, zu relativieren. "Die Wirtschaftskrise trifft die Menschen unterschiedlich", betont Aydin Düzgit. "So ist beispielsweise die Wohnungskrise in Städten wie Istanbul oder Ankara spürbar, aber weniger im ländlichen Raum."

Migrationsdeal vor Menschenrechten

Die Wirtschaft wieder anzukurbeln und die Inflation zu senken, wird jedenfalls für Präsident und Regierung eine Herausforderung. Eine Stärkung der Demokratie wird hingegen wohl kaum eine Priorität sein. Am Präsidialsystem mit seinen, wie Kritiker meinen, immer autoritäreren Zügen, wird vorerst nicht gerüttelt werden. Die kurdischen Parteien erwarten keine neue Initiative im sogenannten Friedensprozess, also bei Verhandlungen um mehr politische und gesellschaftliche Einbindung der Kurden. Auch tausende verhaftete Oppositionelle, Anwälte, Journalisten und Aktivisten können nicht auf eine baldige Freilassung hoffen.

Die Europäische Union, die mit der Türkei Beitrittsgespräche aufgenommen hat, prangert immer wieder Verletzungen der Menschen- und Grundrechte an. Dennoch hat sie Ankara politische Zugeständnisse gemacht, um einen Migrationsdeal mit der Türkei zu schließen, die Flüchtlinge von der Einreise in die EU abhalten soll. Das von Erdogan abgesegnete Abkommen will die Opposition neu verhandeln oder gar auflösen.

Senem Aydin Düzgit ortet in der EU Befürchtungen, dass der Migrationspakt gekündigt werde, wenn Kilicdaroglu gewinnt. "Ich habe das Gefühl, dass die Sorge darum größer ist als jene um Menschenrechte und Demokratie in der Türkei."