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Ära Milosevic: Ein weißer Fleck

Von Gemma Pörzgen

Politik

Belgrad - Auch nach dem Sturz des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic und dessen Auslieferung an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag hat die schonungslose Auseinandersetzung mit der Vergangenheit noch nicht Eingang in die Schulbücher gefunden.


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Zwar erschien in Serbien pünktlich zum neuen Schuljahr das erste neue Geschichtsbuch, doch der Name Milosevic kommt nicht vor. Die Schüler der 8. Klasse finden darin ein letztes Kapitel "Die aktuellen Probleme Jugoslawiens", aber der Text ist nur zwei Seiten lang. Er beginnt mit dem Tod von Staatsgründer Josip Tito und endet mit dem Machtwechsel vom 5. Oktober 2000, ohne andauernde Proteste gegen Milosevics Wahlfälschung und die Dramatik des Umsturzes zu erwähnen. Über die Unterdrückung der Kosovo-Albaner durch das Milosevic-Regime heißt es nur, "aufgrund andauernder Spannungen" hätten serbische Polizei und Armee in der Provinz "die Sicherheit aufrecht erhalten".

Im zuständigen Ministerium für Bildung und Sport wird das Buch gutgeheißen. "Das letzte Kapitel ist in der Form eines journalistischen Artikels geschrieben. Es nennt Fakten und Ereignisse, ohne sie zu deuten", verteidigt Biljana Stojanovic das neue Lehrwerk. Die Beraterin für das Fach Geschichte hält dies für den richtigen Ansatz, denn für die historische Deutung werde zeitliche Distanz benötigt. Die Autoren hätten bewusst außer Tito gar keine Namen von Politikern genannt. Stojanovic spricht von einem "Produkt der Zwischenzeit", da die Autoren bereits vor zwei Jahren mit dem Buch begonnen hätten. Sie ist voll des Lobes für die farbige, moderne Aufmachung. Die Darstellung des Zweiten Weltkrieges sei deutlich verbessert und von Ideologie befreit. Nach dem neuen Lehrplan soll die 8. Klasse ohnehin nur die neuere Geschichte bis 1991 durchnehmen.

"Tagespolitik gehört nicht in den Unterricht", meint auch Dragana Dragas, die an der Stefan-Nemanja-Schule in Belgrad Geschichte unterrichtet und Direktorin ist. Da sei auch jeder Lehrer zu subjektiv. Nach 20 Jahren stellten sich die Dinge vermutlich ganz anders dar. Deshalb solle die historische Darstellung der Milosevic-Ära zunächst zurückstehen.

Schön, aber "gefährlich"

Rudolf Weiss, der als Geschichtslehrer in Subotica arbeitet, ist da ganz anderer Ansicht: "Das Buch sieht schön aus, ist aber gefährlich." Die offene Propaganda des alten Regimes komme nur subtiler daher. "Ich finde es unerträglich, das die vier Bürgerkriege, die Massaker und Srebrenica nicht erwähnt sind", sagt Weiss, der auch Vertreter der deutschen Minderheit in der Nordprovinz Vojvodina ist. Die Serben würden mal wieder nur als Opfer dargestellt. Woher solle die Vergangenheitsbewältigung kommen, wenn jungen Leuten die Wahrheit verschwiegen werde. "So leben die jungen Leute mit Mythen weiter." Seit sogar im Staatsfernsehen erste Berichte über Greueltaten der Vergangenheit auftauchten, suchten viele Jugendliche gerade im Geschichtsunterricht nach Antworten auf ihre Fragen.

Für Wolfgang Höpken vom deutschen Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung spiegelt das neue Geschichtswerk vor allem die "Unsicherheit der Autoren" wieder. Serbien stecke in einer schwierigen Übergangszeit, in der erste Schulbücher noch nicht befriedigen könnten. Es fehle noch der Mut, Geschichte in ihrer Ambivalenz zu zeigen. Das sei in Rumänien nach dem Sturz Nikolae Ceausescus zunächst genauso gewesen. Im Nachbarland Kroatien könne man auch erst nach fünf Jahren bei der zweiten Generation der Schulbücher von wirklichen Fortschritten sprechen. Die serbischen Lehrwerke sind nach Höpkens Darstellung alle veraltet und didaktisch unbrauchbar. Da es nur einen Schulbuch-Verlag gibt, fehlt auch die Auswahl. Im Vordergrund des Unterrichts stehe immer noch die reine Vermittlung von Wissen, nicht aber Quellenarbeit oder Geschichtsreflexion. Mit Geld aus dem Stabilitätspakt unterstützt das Braunschweiger Institut deshalb südosteuropäische Schulbuchautoren bei der Neuorientierung und Entwicklung neuer Schulbücher. Zur Sommerschule nächste Woche werden auch zwei der Autoren des neuen Geschichtswerks erwartet und ihre Arbeit zur Diskussion stellen.