Zehn Jahre Arabischer Frühling: Die Aufstände kamen unerwartet, viele Erwartungen wurden bitter enttäuscht.
Am 17. Dezember vor zehn Jahren setzte sich ein junger Mann in Sidi Bouzid selbst in Brand. Der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi musste einmal zu oft die Schikanen der Polizei ertragen. Die Selbstverbrennung war die verzweifelte Antwort auf seine Ohnmacht gegenüber einem autoritären Staat und dessen Vertretern. Die Protestwelle, die in der tunesischen Stadt ihren Anfang nahm, erfasste den gesamten Nahen Osten und veränderte das Gesicht der arabischen Welt.
Proteste und Kriege zerbröselten 2011 das Bild von der Unantastbarkeit alter Regime: Tunesiens Machthaber Ben Ali floh ins Ausland, Hosni Mubarak wurde in Ägypten unter Hausarrest gestellt, Muammar Gaddafi in Libyen getötet. In Syrien verlor das alte Regime unter Bashar Assad zusehends die Kontrolle über das Land. Die Mauer der Angst war niedergerissen, neue Möglichkeitsräume eröffnet.
Aber von der Euphorie der ersten Tage ist zehn Jahre später nicht viel geblieben. In Tunesien gelang der Übergang zu einer demokratischen Öffnung. In anderen Staaten hielten sich die Regime oder wurden durch andere ersetzt. Beides oftmals durch die Intervention internationaler Player. In Libyen kontrollieren Milizen das Land, in Ägypten putschte sich 2013 Abdelfatah al-Sisi an die Macht. Assad konnte mit der Hilfe Russlands und Irans den größten Teil Syriens wieder unter seine Kontrolle bringen.
Digital gegen Kontrolle
Und die Regime haben aus den Aufständen gelernt. Die jungen, internetaffinen Demonstranten waren den alten Autokratien anfangs kommunikationstechnisch überlegen. Sie nutzten die sozialen Medien, um für Proteste zu mobilisieren und umgingen mithilfe der digitalen Kanäle die staatliche Nachrichtenkontrolle.
Doch die Regime rüsteten auf, kauften Spionage-Software in Europa, den USA und Israel, um ihre Cyber-Überwachung voranzutreiben. Sie führten Anti-Terror- und Notstandsgesetze ein, um kritische Stimmen von Bloggern, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten zum Schweigen zu bringen. Die Gefängnisse füllten sich. Die Angst war zurückgekehrt.
Die Proteste trafen Analysten und Politiker 2010 und 2011 gleichermaßen unvorbereitet. Kaum jemand hatte es kommen sehen. Es dauerte Tage und manchmal Wochen, bis die USA und Europa einschätzen konnten, ob ein Festhalten an den alten Verbündeten und damit an der viel gepriesenen Stabilität aussichtsreich war.
Doch stabil waren diese Staaten nicht. Die alten Gesellschaftsverträge, wonach die Regime unter Ausschluss politischer Mitsprache halbwegs vernünftige soziale Sicherheit für die Bevölkerung boten, funktionierten nicht mehr. Die Wirtschaften stotterten, die hoffnungslos aufgeblähten Beamtenapparate konnten keine zusätzlichen Jobs mehr bieten. Die Privatwirtschaft lag vielerorts am Boden, erdrückt von einer überdimensionalen Militärwirtschaft und den mafiösen Netzwerken herrschender Familienclans.
Gleichzeitig wurden Widerspruch und Kritik mit sicherheitsstaatlichen Mitteln unterdrückt. Die soziale Explosion zeichnete sich ab. Viele, vor allem junge Menschen, führte die Perspektivlosigkeit zu dem Schluss, dass sie nichts mehr zu verlieren hätten.
Bollwerk gegen Islamisten
Und auch die Islamisten, die vielerorts den Verlauf der Proteste prägten, sind nicht vom Himmel gefallen. Seit Jahren gewannen sie wegen der Unzufriedenheit der Bevölkerung an Zulauf. Wo der Staat seinen sozialen Aufgaben nicht nachkam, wie etwa in Ägypten, sprangen die Muslimbrüder in die Bresche. Das machte sie populär. Gleichzeitig sorgten die Staaten dafür, dass es keine starken säkularen Alternativen gab. Aber nur eine pluralistische Gesellschaft wäre in der Lage gewesen, den Islamisten das Feld abzugraben. Indem die Regime die Existenz islamistischer Gruppen duldeten und gleichzeitig jede Form säkularer Opposition unterdrückten, konnten sie sich nach innen wie nach außen als einziges Bollwerk gegen den Islamismus präsentieren: Wir oder die Islamisten.
Sowohl dort, wo die Proteste in Wahlen mündeten, als auch da, wo sie zu Kriegen eskalierten, waren es daher die Islamisten, die auf bereits bestehende Netzwerke zurückgreifen konnten. Für viele stellten sie die einzige Option dar, wenn es darum ging, eine realistische Alternative zu den verhassten Regimen zu finden. Realistisch, weil sie aufgrund ihrer Netzwerke in der Lage waren, für Wahlen zu mobilisieren und diese zu gewinnen. Realistisch aber auch, weil sie durch ihre internationalen Kontakte Waffen und Geld für den Kampf gegen die Regime aufstellen konnten.
Und es blieb nicht nur bei den vergleichsweise gemäßigten Muslimbrüdern. Wo die Konflikte sich brutalisierten, traten religiöse Hardliner auf den Plan. Sie träumten nicht von einem demokratischen Übergang, sondern von einer Diktatur der Religion. Ihr Weg begann 2011 und gipfelte in der Ausrufung des Kalifats 2014. Auch das war einer der Möglichkeitsräume, die sich im Zuge der Proteste eröffneten.
Zehn Jahre nach Beginn der Proteste setzen westliche Staaten nach wie vor auf autoritäre Regime, in der Hoffnung, diese würden Stabilität garantieren. Bei seinem Besuch in Kairo Anfang Dezember waren für Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die von den ägyptischen Machthabern verübten Menschenrechtsverletzungen nur ein Nebenthema. Wirtschaftsbeziehungen und Rüstungskooperation waren wichtiger. Und Frankreich steht damit nicht alleine da. Auch Italien und die USA machen Geschäfte mit dem ägyptischen Regime und zementieren damit seine Stellung.
Zweite Protestwelle im Gang
Es wird mehr diplomatischen und wirtschaftlichen Druck brauchen, um diese Staatsführer zu einer Lockerung ihrer Regime zu bringen, im Sinne einer demokratischen Öffnung hin zu pluralistischen Gesellschaften. Denn der Punkt ist: Diese sogenannten stabilen Staaten werden früher oder später wieder Revolutionen provozieren. Eine zweite Protestwelle ist seit 2019 im Gang. Und nicht nur die Regierungen, auch die Demonstranten haben gelernt: Anders als noch 2010 und 2011 begnügen sie sich nicht mehr mit dem Rücktritt einzelner Staatsoberhäupter. Im Libanon und Irak fordern sie den Abtritt der gesamten Regierung, rütteln an den Strukturen der politischen Systeme in ihrer Gesamtheit.
Wie weiter? Das Elend des Nahen Ostens haben nicht diejenigen verursacht, die sich gegen autoritäre Regierungen erhoben haben. Verantwortlich sind jene Machthaber, die glauben, die Bevölkerung durch brutale Polizeigewalt, Foltergefängnisse und fehlende Rechtsstaatlichkeit zur Duldung ihrer ausbeuterischen Regime zwingen zu können. Und die damit auch den Nährboden für islamistische und dschihadistische Bewegungen schaffen. Mitverantwortlich sind jene Politiker, die diese Regime als Stabilitätsfaktoren sehen und sie bedingungslos militärisch und wirtschaftlich stützen.
Der Arabische Frühling ist in Hinblick auf einen Übergang zu einer Demokratisierung der Gesellschaften zum größten Teil fehlgeschlagen. Aber die im Zuge der Proteste artikulierten Forderungen sind deshalb nicht zum Schweigen gebracht. Es gibt sie selbst in den kriegsverheerten Zonen des Nahen Ostens nach wie vor, denn an den Missständen hat sich nichts geändert.