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Arbeit hilft nicht gegen Armut

Von Katharina Schmidt

Politik

Steigende Teilzeit und atypische Beschäftigungsverhältnisse führen zu immer mehr Working Poor.


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Wien. Eigentlich wollte Maria Fernandes Friseurin werden. Doch sie hatte das Geld nicht, um sich die Ausbildung leisten zu können. Stattdessen nahm sie drei Jobs in drei verschiedenen Dunkin‘ Donuts Filialen an. Die 32-Jährige arbeitete fast rund um die Uhr, um über die Runden zu kommen. Irgendwann am Weg zwischen zwei Schichten schlief sie im Auto ein und erstickte durch eine undichte Gasflasche auf der Rückbank. So geschehen 2014 in den USA. Die Medien setzten der jungen Frau ein Denkmal als "Gesicht der Rezession". Doch in den USA ist die Geschichte der Multijobber, der Working Poor, der Menschen, die sich mit einer Arbeitsstelle alleine nicht mehr über Wasser halten können, schon längst Realität.

Und spätestens durch die Finanz- und Wirtschaftskrise ist das Phänomen auch nach Europa und Österreich übergeschwappt. Vielleicht nicht in dieser Dramatik wie in Maria Fernandes’ Fall, aber es ist Teil der Arbeitswelt der Zukunft, dass eine Arbeitsstelle nicht automatisch bedeutet, genug zum Leben zu haben. Nach den letzten verfügbaren Zahlen der EU-weiten Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) waren in Österreich im Jahr 2014 insgesamt 266.000 Menschen zwar erwerbstätig, aber dennoch armutsgefährdet. Das sind sieben Prozent der Erwerbstätigen insgesamt. Nach der Definition der Eurostat bedeutet das konkret, dass von den 18- bis 64-Jährigen, die 2014 mehr als sechs Monate in Voll- oder Teilzeit gearbeitet haben, sieben Prozent weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verdient haben.

Wer sind nun diese Menschen, die in der Statistik so kompliziert definiert werden? Wolfgang Strengmann-Kuhn beobachtet das Phänomen schon lange. Als einer der Ersten in Deutschland hat der Wirtschaftswissenschafter, der mittlerweile für die Grünen im Bundestag sitzt, das Thema in den 1990er Jahren analysiert.

Starker Anstieg seit den 90ern

"Damals waren fünf Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland arm, heute sind es acht Prozent - es gibt derzeit mehr erwerbstätige Arme als Arbeitslose", sagt er zur "Wiener Zeitung". Er ortet zwei Hauptursachen für die Erwerbsarmut: Einerseits handle es sich dabei oft um Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, also zum Beispiel Frauen in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Andererseits sei Erwerbsarmut auch abhängig von Zahl der Personen, die im selben Haushalt mit der erwerbstätigen Person leben. Denn Alleinverdiener und Alleinerzieher verdienen oft mehr als den Mindestlohn, könnten davon auch durchaus leben, wären sie alleinstehend - durch die Zahl der von ihnen abhängigen Personen gelten sie aber als arm.

In Österreich ist die Situation mit jener in Deutschland vergleichbar. Laut dem letzten Sozialbericht für 2013 und 2014 haben vor allem Mehrpersonenhaushalte mit drei oder mehr Kindern sowie Alleinerziehenden-Haushalte ein überdurchschnittlich hohes Armutsrisiko. Dazu kommen Faktoren wie Ausbildung und Migrationshintergund: Wer maximal eine Pflichtschule abgeschlossen hat oder im Ausland geboren ist, muss mit niedrigeren Stundenlöhnen das Auslangen finden (siehe Grafik). In diesen Zahlen wird auch die "Generation Praktikum" abgebildet: Während 14 Prozent der Pflichtschulabgänger in die Gruppe der Working Poor fallen, sind es bei den Akademikern nur 8 Prozent, bei den Personen mit Lehrabschluss allerdings überhaupt nur sieben Prozent.

Generell sind die atypischen Beschäftigungsverhältnisse, in denen immer mehr Menschen in Österreich arbeiten, ein großer Motor für das Phänomen Working Poor, sagt der Ökonom Markus Koza, Vorsitzender der Unabhängigen Gewerkschafter im ÖGB. 2013 waren nur noch knapp über die Hälfte der Arbeitnehmer in einem unbefristeten Vollzeit-Arbeitsverhältnis tätig. Dazu kommt, dass die neuen Selbständigen und freien Dienstnehmer, deren Zahl stetig steigt, nicht von den Kollektivverträgen erfasst werden und daher in diesem Bereich die Einkommen erodieren.

Denn im Gegensatz zu Deutschland, wo im vergangenen Jahr ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde, gibt es in Österreich de-facto-Mindestlöhne über die hohe kollektivvertragliche Abdeckung: Bis auf bestimmte Berufsgruppen wie zum Beispiel bei den Angestellten der freien Berufe wie Notaren gibt es in Österreich fast überall einen kollektivvertraglich festgelegten Mindestlohn. Laut Strengmann-Kuhn schützt auch ein Mindestlohn nicht automatisch vor Armut. Er sieht drei Gruppen, denen diese Maßnahme nicht nützt: Alleinverdiener, die mehr als den Mindestlohn verdienen, Selbständige und Teilzeiterwerbstätige.

Letztere kommen trotz theoretisch ausreichender Stundenlöhne nicht auf ein Einkommen, von dem sie leben können. Koza fordert daher eine Mindestlohnpolitik, die auch den Teilzeitsektor umfasst: Ist der Gesamtlohn bei einer gewissen Stundenanzahl zu gering, müsste es eine Mindeststundenanzahl geben. Die Mindestsicherung absenken will Koza nicht, es müssten aber Arbeitsanreize geschaffen werden, etwa mithilfe einer zeitlich befristeten Möglichkeit, parallel zu arbeiten und Mindestsicherung zu beziehen. Außerdem müssten Bildungsangebote an die Mindestsicherung gekoppelt werden. Eine Deckelung der Mindestsicherung für Familien bei 1500 Euro, wie es in Österreich überlegt wird, hält Strengmann-Kuhn für ein "Programm zur Erhöhung der Kinderarmut und der Armut von Erwerbstätigen".

Teilzeit wird gewünscht

Der Leiter der Abteilung Sozialpolitik in der Wirtschaftskammer, Martin Gleitsmann, fordert indes, die Mindestsicherung in Richtung einer Erhöhung der Sachleistungen zu überarbeiten. Es könne nicht sein, dass "die Mindestsicherung keine Arbeitsanreize mehr bietet". Auch von einem Mindestlohn hält Gleitsmann mit Verweis auf die hohe Kollektivvertragsdichte nichts. Die hohe Teilzeitrate erklärt er so: "Die Nachfrage nach Teilzeit ist mehrfach so groß wie das Angebot, dass die Betriebe den Arbeitnehmern Teilzeit aufoktroyieren, ist ein schlechtes Märchen." Das ist dann eine Frage der Infrastruktur. Eine einfache Lösung wird es also nicht geben.