Ein bisher weitgehend aus den USA bekannter Trend greift verstärkt auf Österreich über: die so genannten "working poor". Erstmals verzeichnen Sozialämter eine starke Zunahme von Klienten, die trotz Arbeit um Sozialhilfe ansuchen müssen, weil sie zu wenig zum Leben verdienen. Allein in Wien sind es derzeit mehr als 4.000 solcher Menschen; Tendenz stark steigend. Betroffen davon sind nicht mehr allein die "üblichen Verdächtigen", sondern auch junge Leute, solche mit guter oder akademischer Ausbildung und generell kinderreiche Familien. Mit dabei bundesweit rund 30.000 Kinder, die in Österreich bereits von der Sozialhilfe (mit)leben.
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"Wir beobachten diese Entwicklung heuer erstmals in dieser Dimension", betont Peter Stanzl, Sozialhilfereferent der zuständigen Wiener MA15a. Er verweist auf "bereits mehr als 4.000 Betroffene", also rund zehn Prozent aller Sozialhilfeempfänger. Deren Zahl wiederum ist in den letzten Jahren ebenfalls um rund 100 Prozent gewachsen. Und es könnten viel mehr sein: Eine Untersuchung der Caritas belegt, dass die Zahl der viel geschmähten "Sozialschmarotzer" lediglich bei fünf bis zehn Prozent liegt, während rund die Hälfte aller Bedürftigen die Sozialhilfe gar nicht in Anspruch nimmt, weil sie sich geniert, nicht auskennt oder völlig resigniert. Damit würden genannte Zahlen verdoppelt.
Stanzls Kollegen von der "Front" belegen diese Fakten mit Details: "Es sind vor allem Alleinerzieher, Alleinverdiener kinderreicher Familien, aber auch Singles, die etwa nach Scheidung durch Alimente oder gemeinsam aufgenommene Schulden ins finanzielle Dilemma kommen", beschreibt Bernhard Mager, Leiter des Sozialzentrums Floridsdorf, seine "typischen" Klienten.
Mittelschicht bröckelt
Bemerkenswert dabei: Sie stammen zunehmend aus der sogenannten "Mittelschicht" mit Kategorie A-Wohnungen und guter Ausbildung, haben sich aufgrund mangelnder Beschäftigungen oder von Konkursen aber zunehmend "heruntergearbeitet", letztlich kaum noch Anspruch auf Arbeitlosenhilfe und sind so klassische "McJob"-Kandidaten.
In diesen sieht er auch die Wurzel des Übels: "Viele arbeiten voll mit teils zwei oder drei solcher Jobs und kommen trotzdem nicht über die Runden", weiß Mager, "das Lohn-Preis-Gefüge klafft immer weiter auseinander, dazu kommen rasch Schulden". So seien Klienten mit Monatsverdiensten von weniger als 300 Euro keine Seltenheit mehr, die dann beim Sozialamt um "Richtsatzergänzung" ansuchen können. Für die nächsten Wochen erwarte man wieder einen großen "Schub" all jener, die nach dem strengen und langen Winter mit horrenden Heizkosten-Nachzahlungen zu ihm pilgern. Ebenso wie bei der Miete werde hier primär ausgeholfen und dann ein Finanzierungskonzept gemacht. "Schließlich können wir die Leute ja nicht einfach rauswerfen und darauf warten, bis wir sie als Obdachlose wieder mit viel Geld und Mühe resozialisieren müssen", erklärt Mager den sozialen Teufelskreis als direkte Folge aktueller Arbeitsmarktpolitik.
"McJob-Hitparade"
Bei den "McJobs" selbst gebe es mittlerweile kaum noch Tabus: Neben Reinigungsdiensten werden zunehmend auch im Verkauf "Zeitaushilfen" beschäftigt, die nur "bei Bedarf" kurzfristig angerufen werden oder angesichts der immer länger werdenden Öffnungszeiten zu gar nicht familiengerechten Terminen einspringen dürfen. Umgekehrt mangle es an leistbaren Kinderunterbringungsmöglichkeiten, was nicht nur Familien ins Chaos stürzt, sondern Hauptursache für die Geburtenrückgänge in Österreich sei. Einen besonders hohen Verarmungsanteil verzeichnet er auch bei den Taxifahrern. Akademiker und Erwachsenenbildner wiederum würden unter dem Ausfall des öffentlichen Dienstes als Arbeitgeber stark leiden und müssten sich vielfach mit Nachhilfe oder anderen Dienstleistungen über Wasser halten - meist kaum versichert. "Alles ist flexibler geworden, nur nicht die Fixkosten", bringt es Mager auf den Punkt. Bereits ein Drittel seiner Klienten seien Familien.
Aber auch die "Web-Design-Welle" habe durch Überangebot und sinkende Nachfrage einen ruinösen Wettbewerb in dieser Szene geschaffen, teils noch unterstützt durch einschlägige Umschulungskurse des AMS (Arbeitsmarktservice). Beim AMS bemerken die Sozialhelfer generell eine "wesentlich härtere Politik, die Leute verlieren wegen der geringsten Terminversäumnisse oder anderer Vergehen ihre Ansprüche und kommen dann zu uns", beklagt Mager. Dabei sind die Sozialhilfe-Sätze bereits seit drei Jahren nicht mehr Index-angepasst worden.
Bereits 900.000 in Armut
In Österreich sind laut "Armutskonferenz" an die 900.000 Menschen (11,3 Prozent) direkt "armutsgefährdet" (mit einem Monatseinkommen von 780 Euro oder darunter); 178.000 (1,6 Prozent) davon (inkl. Familien) sind dies trotz Beschäftigung ("working poor"). Der Zusammenhang zwischen atypischen Arbeitsformen und Armutsgefährdung gilt als nachgewiesen: Laut ministeriellem "Sozialbericht 2003" leiden besonders häufig Selbständige, Landwirte, Hilfskräfte und "atypisch Beschäftigte" unter "akuter Armut". http://www.armutskonferenz.at http://www.caritas-wien.at
http://www.sozialinfo.wien.at