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Arbeit und Moral im Versand

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder

Wirtschaft

Angesichts des Falls Amazon debattiert Amerika über Sinn und Unsinn seines Arbeitsethos.


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New York. Die Antwort auf die Frage nach dem Warum, selten hat sie so polarisiert wie... in den Werbepausen der letzten Olympischen Winterspiele und der unmittelbar darauf folgenden Oscar-Verleihung. Und das kam so: Die Firma Cadillac stellt in den Vereinigten Staaten von Amerika Autos her, und das schon seit 1902. Im Lauf der Jahrzehnte seitdem ist die Marke zu einem nationalen Mythos geworden, auch wenn ihr Glanz ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitunter stark gelitten hat. Obwohl die Cadillac-Produkte, bekannt für ihr buchstäblich raumgreifendes Design, bisweilen ein wenig gar arg aus der Zeit gefallen schienen und scheinen; besungen und verehrt wurden sie trotzdem.

Insofern schien es naheliegend, den geschichtsbeladenen Brand für Werbezwecke noch einmal quasi mit dem Schicksal der Nation zu verbinden. Das hörte sich dann, vorgetragen von einem mittelmäßig begabten Schauspieler, dessen kurze blonde Haare und stahlblaue Augen keinen Zweifel über die Zielgruppe aufkommen ließen, so an: "In anderen Ländern gehen sie nach der Arbeit ins Café und nehmen sich im August frei. Frei. Warum bist du nicht so? Warum sind wir nicht so? Weil wir hart arbeitende Gläubige sind."

Und an was glaubt der gute arische Mensch von Amerika, nachdem er, ganz im Sinn seiner Botschaft, ein bisschen fragwürdiges, aber wirksames Namedropping zum Beleg seiner These betrieben hat (Bill Gates, Les Paul, Muhammed Ali)? "Es ist ganz einfach: Du arbeitest hart, Du schaffst Dein eigenes Glück, und du glaubst daran, dass alles möglich ist. Und was das Zeug angeht: Das kann man sich leisten, wenn man sich im August nur zwei Wochen Urlaub nimmt. N’est ce-pas?" - Nicht wahr?

Ja wirklich. In Frankreich wie im Rest Europas hielt sich der Verkaufserfolg des Cadillac ELR Couple, beworben erstmals und kaum zufällig während der Spiele von Sotschi 2014, entsprechend in Grenzen. Auch in den USA selbst fiel er bescheiden aus, nicht zuletzt das Ergebnis der kontroversiellen globalen Rezeption des Spots. Derart offensichtlicher Chauvinismus als Marketingstrategie, das scheint in der vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts nur mehr begrenzt hinzuhauen.

Parteiübergreifende Einigkeit über Arbeitnehmer-Pflichten

Immerhin hatte das nur eine Minute dauernde Cadillac-Filmchen - das sich wegen Protesten abertausender Zuschauer nur kurz am Bildschirm hielt -, dazu geführt, dass in den USA im vergangenen Jahr eine zarte Debatte über den Sinn und Unsinn von Arbeitszeit- und -ethos entstand. Keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem der Durchschnittsbürger Anspruch auf zwei Wochen Urlaub im Jahr hat, und das meist unbezahlt - und in dem das keinen wirklich aufregt.

Wenn noch so etwas wie ein einigendes Band zwischen den ansonsten aufs Innigste verfeindeten politischen Lagern existiert, dann, dass es über die Pflichten des amerikanischen Arbeitnehmers an sich keine Diskussion gibt. Wie wichtig indes eine breite öffentliche Debatte über die Rechte nämlicher in der modernen Arbeitswelt wäre, belegt der jüngste Stein des Anstoßes.

Am vergangenen Wochenende hatte das nationale Leitmedium "New York Times" eine Geschichte veröffentlicht, in der fragwürdige Praktiken beim Online-Versandhändler Amazon verhandelt wurden. Der Fokus der Story lag auf Menschen, die für den Konzern arbeiten oder einmal gearbeitet haben und - mal anonym, mal namentlich gekennzeichnet - über ihre Erfahrungen im Reich von Gründer und Chef Jeff Bezos Zeugnis ablegten.

Horrende Arbeitsbedingungen bei Amazon

Was herauskam, geriet zu nicht weniger als einem Bericht aus dem Inneren einer Horrorshow. Beispiele: Wer bei Amazon arbeitet, wird permanent dazu ermutigt, Kolleginnen und Kollegen anzuschwärzen, wenn diese ihre Arbeit angeblich oder wirklich nur unzureichend erledigen. Wer nicht mindestens elf Stunden am Tag und am Wochenende und im Urlaub seine Zeit zum Wohl der Firma zur Verfügung stellt, macht sich automatisch zur Zielscheibe seiner Vorgesetzten. Selbst private Tragödien wie Totgeburten oder die Erkrankung eines Familienmitglieds stellen bei Amazon keinen Grund da, sich nicht auf die drei wichtigsten Dinge zu konzentrieren: Arbeit, Arbeit, Arbeit.

Jeff Bezos gab sich angesichts des Berichts schockiert. In einem offenen Brief an alle Mitarbeiter gab sich der 51-Jährige praktisch ahnungslos darob, dass sich in seinem Unternehmen über die Jahre - Amazons Gründungsdatum lautet 1994 - eine derartig offen menschenverachtende Kultur breitgemacht hatte.

Wenn man den Brief liest, spiegelt sich darin weniger offene Bosheit oder Ignoranz, sondern die aufrichtige Naivität des Gründers wider, der zuerst den globalen Buchhandel aufgemischt hatte, um seinen Konzern dann zum größten Online-Versandhaus der Welt für buchstäblich alles Mögliche auszubauen. "Das in der ,Times‘-Geschichte beschriebene Amazon ist nicht das Amazon, das ich kenne", schrieb er; und forderte die Opfer von ungerechter Behandlung unter anderem auf, sich fortan persönlich bei ihm zu melden (jeff@amazon.com).

Wie viel der derzeit rund 150.000 Beschäftigten - Tendenz aufgrund der Nachfrage der von der Firma vertriebenen und produzierten Produkte kontinuierlich stark steigend - das wohl wirklich tun werden? Angesichts der Gesetzmäßigkeiten, die sich die Firma seit ihrer Geburt selbst auferlegt hat, scheint es mehr als unrealistisch, dass selbst die Bereitstellung von Bezos als menschlicher Klagemauer Abhilfe schaffen wird. Ganz einfach, weil die in dem "Times"-Bericht dargestellten Zustände einfach nur eine logische Folge der Geschäftsphilosophie von Amazon sind.

Amazon und all seine Subdivisionen mögen eine nahezu weltweite Monopolstellung in Sachen Online-Handel innehaben - aber die Firma hat noch nie wirklich Gewinn abgeworfen. Nicht etwa Ergebnis windiger Geschäftspraktiken: Bezos machte seinen Investoren von Anfang an klar, dass sie ihr Geld nur dann in Amazon stecken sollen, wenn alles, was reinkommt, stets sofort wieder in die Weiterentwicklung der Firma gesteckt wird.

Amazon hat maßlose Expansionsgelüste

Nachdem es selbst für Amazon noch ein gutes Stück hin ist zur Weltherrschaft - und darunter wird es Bezos nicht machen, wovon auch seine sonstigen Aktivitäten zeugen, wie der Kauf der "Washington Post", der steigende Anteil von realen wie virtuellen Eigenproduktionen und die Idee der Drohne als künftigem Warenboten -, wird das noch mindestens die nächsten fünf, zehn Jahre so bleiben.

Während so die breite Mehrheit der Unternehmen aus dem Silicon Valley und ihre Satelliten an der Ost- und Westküste (Amazons Hauptquartier ist in Seattle, Washington) ihre Mitarbeiter mit allerlei Annehmlichkeiten verwöhnen, von firmeneigenen Kindergärten und Gratisessen bis zu Themenparks, muss sich Amazon weiterhin wie ein Start-up gerieren, das seine Überlebenschancen gering einschätzt und folglich gezwungen ist, seine Leute zumindest eine Zeit lang richtig auszubeuten. Zumindest bis zum Erreichen des nächsten Meilensteins - des Durchbrechens der Schallmauer von einer Trillion Dollar Jahresumsatz - dürfte das so bleiben. Den hart arbeitenden Gläubigen Amerikas sei Dank.