Die US-Wirtschaft boomt wieder - doch bei weiten Teilen der Bevölkerung kommt davon wenig bis nichts an.
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Washington D.C./Los Angeles. Es war ein zutiefst Trump’scher Moment, einer von denen, die die Essenz seines Charakters wie die seiner Präsidentschaft offenbaren. "Das erste Mal seit hundert Jahren ist das Wachstum des Bruttosozialprodukts (4,2 Prozent, Anm.) höher als die Arbeitslosigkeit (3,9 Prozent, Anm.)!": Der US-Präsident als Motor des vermeintlich größten Wirtschaftsbooms seit Ende des Ersten Weltkriegs, als Heiland einer darbenden Nation, die erst durch ihn wieder zu alter Stärke zurückgefunden hat.
Bis die Realität den 71-jährigen Ex-Reality-TV-Star wieder eingefangen hatte, dauerte es keine 24 Stunden; und ausnahmsweise war es diesmal nicht die politische Opposition, sondern einer seiner eigenen Leute, der die Dinge richtig einordnete. Die aktuellen Daten, erfasst im Zeitraum April bis Juni 2018, stellten die besten seit zehn, nicht seit hundert Jahren dar, teilte Kevin Hassett mit, der oberste Wirtschaftsberater des Weißen Hauses. Auch nicht ganz korrekt, aber immerhin: Das letzte Mal, als die US-Wirtschaft derart brummte, schrieb man das erste Quartal 2006 (5,4 Prozent Wachstum des Bruttosozialprodukts, 4,7 Prozent Arbeitslose). Darüber hinaus sei die von Trump als historisch bezeichnete Quartal-Wachstumsrate seit 1945 viele dutzende Male erreicht worden - das letzte Mal unter seinem Vorgänger Barack Obama - und stelle somit alles andere als eine Ausnahme dar.
Fast auf den Tag genau zehn Jahre nach dem Ausbruch der großen Finanzkrise - am 15. September 2008 war der Investment-Bankriese Lehman Brothers offiziell bankrott und beantragte beim Staat Gläubigerschutz - und zwei Monate vor den für die politische Zukunft des Landes entscheidenden Midterms stehen die USA rein wirtschaftlich besehen mehr als robust da. Das Wachstum bewegt sich auf beständig hohem Niveau. Quer durchs Land ist die Arbeitslosigkeit so niedrig, dass von San Diego, Kalifornien, bis Bangor, Maine, de facto Vollbeschäftigung herrscht, während die Börse immer neue Höhenflüge feiert. Folgerichtig ist der Streit um die Deutungshoheit des vermeintlichen Erfolgs dieser Tage voll im Gange. Während Trump darauf besteht, dass das alles ihm und nur ihm allein zu verdanken sei, traute sich Obama jüngst im Rahmen eines seiner Auftritte als Wahlkampfhelfer für seine Demokraten darauf hinzuweisen, dass der Aufschwung bereits unter ihm begann.
Frühe Indikatoren weisen darauf hin, dass es für Trumps Republikaner bei den Midterms ein böses Erwachen in Form des Mehrheitsverlustes im Repräsentantenhaus und vielleicht sogar im Senat geben dürfte. Denn der Boom kommt überall an, nur nicht dort, wo man ihn nötiger hätte denn je: bei Trumps Wählern aus der Arbeiter- und Angestelltenschaft in der Stadt, aber vor allem am Land.
"Beste Versicherung gegen Armut ist ein Job"
Fernab der Metropolen hat sich im laut Trump angeblich von Generationen von Politikern "vergessenen Amerika" seit seiner Wahl nicht viel verändert; und dass die von den Konservativen betriebene Steuerpolitik die Lage nur noch verschlimmert, scheint sich, glaubt man den Umfragen, mittlerweile sogar in ihren Hochburgen von Mississippi bis Alabama durchzusprechen.
"Die beste Versicherung gegen Armut ist ein Job": Kein republikanischer Kandidat kam in den vergangenen 40 Jahren ohne diesen Satz aus. Aber dieses Diktum führt in die Irre: Denn wenn die US-Lebenswelten im Jahr 10 seit Ausbruch der großen Krise eines belegen, dann das: Nur weil jemand Vollzeit oder sogar noch mehr arbeitet, heißt das nicht, dass er davon auch leben kann. Für jene Menschen, die keinen Uni-Abschluss haben, stellen sich die Zahlen dramatisch dar. Seit Anfang der 1970er sind in den USA die Reallöhne im Billigjob-Segment um ganze 12 Prozent gestiegen. Rund 42 Millionen Menschen - gut ein Drittel aller Amerikaner im arbeitsfähigen Alter - verdienen heute unter 12 Dollar pro Stunde.
Nach Ansicht der Mehrheit der Kongressabgeordneten dürfen sich die meisten dieser Leute noch glücklich schätzen. Der vom Bund festgesetzte Mindestlohn liegt bei 7,25 Dollar. Mittlerweile gibt es in den USA praktisch keinen Bundesstaat mehr, in dem jemand damit ohne staatliche Beihilfen überleben kann. Aber weil sich die Situation im Alltag in der Regel kaum offenkundig niederschlägt, etwa in Form von Obdachlosigkeit (Ausnahme: Städte wie Los Angeles und San Francisco, die aufgrund ihres Klimas und halbwegs funktionierenden lokalen Infrastrukturen Menschen ohne Dach über dem Kopf aus dem ganzen Land anziehen) oder hohen Kriminalitätsraten sieht außer ein paar als "Sozialisten" verschrieenen Politaktivisten niemand einen Grund, daran etwas zu ändern. (Ausnahme: Städte wie Seattle oder Chicago, die 15 beziehungsweise 13 Dollar Mindestlohn vorschreiben.)
Plastischer erklärt: Jeder, der in USA lebt oder sie besucht, sieht nicht, dass die Kellnerin, die ihn im Restaurant bedient, auf Trinkgeld und Lebensmittelmarken angewiesen ist, um ihre Kinder ernähren zu können; dass der freundliche Mann hinterm Steuer seines Uber oder Lyfts täglich bis zu 18 Stunden im Auto sitzt, nur um über die Runden zu kommen; dass die Supermarkt-Kassiererin deshalb so schlecht gelaunt ist, weil trotz regelmäßiger Sonntags- und Feiertagsarbeit das Geld für die Schuluniform der Tochter nicht reicht. In den sogenannten strukturschwachen Regionen - die Mehrheit versammelt in Bundesstaaten, die westlich des Hudson River und östlich der Bundesstaatsgrenze von Kalifornien zu Nevada und Arizona liegen - schlägt sich diese Entwicklung in Statistiken nieder, über die ein Donald Trump nie twittern würde.
Im ersten Jahr seiner Amtszeit erreichte die Zahl der Amerikaner, die an einer Überdosis Drogen starben, einen neuen Höchstwert: 72.000, ein Anstieg von sage und schreibe 10 Prozent im Vergleich zu 2016. Trotzdem ist Außenstehenden bis heute nur schwer begreiflich zu machen, was sich in Teilen von West Virginia, Tennessee, Oklahoma oder Louisiana abspielt. Motto: Bevor ich mich zehn Stunden am Tag bei McDonald’s hinter den Tresen stelle, ohne jegliche Aussicht auf eine langfristige Verbesserung meiner ökonomischen Aussichten, ergebe ich mich lieber dem Rausch, der mir zumindest für ein paar Stunden am Tag die Illusion lässt, dass es mir gut geht. Trump hat zwar versprochen, daran etwas zu ändern, passiert ist aber nichts.
Fragwürdige Steuererleichterungen
Und was ist mit der Steuerreform? Auch wenn es noch keine definitiven Zahlen gibt, aus denen sich ein volles Bild ergibt, zeichnet sich schon jetzt ab, dass die Mehrheit der Arbeitgeber ihre Steuererleichterungen nur in Form von Einmalzahlungen an ihre Mitarbeiter weitergibt. Unter den börsennotierten Unternehmen ist zudem ein Trend erkennbar, dass auch sie nicht daran denken, dauerhaft Stundenlöhne zu erhöhen, sondern ihre Rekordprofite zum Rückkauf ihrer eigenen Aktien nutzen. Weil sich die von Trump angeführte Bundesregierung zudem seit Amtsantritt bemüht, alle unter Obama eingeführten - ohnehin nicht üppig ausgestalteten - Sicherheitsvorkehrungen, die eine Wiederholung der Finanzkrise unmöglich machen sollten, rückgängig zu machen, häufen sich mittlerweile da und dort die Warnsignale, dass der Abschwung bald komme; nur in welcher Erscheinungsform sei noch nicht fix.
Zumindest auf eines können sich die Arbeiter und Angestellten in den USA indessen verlassen: Sie wird es wie immer am heftigsten treffen. Viele von ihnen werden trotzdem nicht aufhören, jene Leute zu wählen, die genau dafür verantwortlich sind, weil diese sie am Ende wie immer davon überzeugen werden, dass nicht sie, sondern die Schwarzen, die Latinos oder die Ausländer an allem schuld sind. Zumindest das funktioniert in den USA schon seit mehr als hundert Jahren.