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Braucht die Eurozone mehr Arbeitskräftemobilität oder nicht? Diese Frage beschäftigt Ökonomen und Politiker seit Beginn der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Die Eurozone war von Anfang an kein optimaler Währungsraum. Es gibt eine einheitliche Geldpolitik, aber keine gemeinsame Fiskalpolitik. Da es keine direkten Fiskaltransfers gibt und der reale Wechselkurskanal nicht einwandfrei funktioniert, müssen makroökonomische Ungleichgewichte anders ausgeglichen werden. Hier könnte Arbeitskräftemobilität helfen.
Wenn Arbeitnehmer aus strukturschwachen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit in dynamische Regionen umziehen und dort bessere Arbeitsbedingungen und höhere Gehälter vorfinden, sinkt die Arbeitslosigkeit in den Herkunftsregionen und die Sozialkassen werden entlastet. Mithilfe von Überweisungen an Verwandte und Freunde in den strukturschwachen Regionen steigt dort die Kaufkraft wieder.
Zu viel Mobilität kann aber auch makroökonomische Ungleichgewichte verstärken. Die Abwanderung junger und besser qualifizierter Bürger kann einen asymmetrischen Schock verstärken und würde die Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion gefährden. Arbeitskräftemobilität kann also zwei gegensätzliche Effekte haben: Sie kann Ungleichgewichte verkleinern oder auch vergrößern.
Krise löste Umkehr der Nettomigrationsströme aus
Seit Beginn der großen Rezession 2008 gab es eine Umkehr der Nettomigrationsströme: Bis 2007 zogen viele EU-Bürger in den boomenden Süden der Eurozone. Dort fanden die meisten Jobs in arbeitsintensiven Sektoren wie Tourismus, Bauindustrie und Pflege. Nach dem Platzen der Immobilienblase und dem wirtschaftlichen Kollaps versiegte der Zustrom in diese Länder schnell. Stattdessen gingen viele nach Deutschland, Österreich und in andere nördliche Länder.
Diese Trendwende wurde nicht von Arbeitssuchenden der südlichen Krisenländer eingeleitet, sondern vielmehr durch die Umleitung der Ost/West-Ströme. Statt nach Spanien und Italien zog es Migranten aus Osteuropa nach der Krise vor allem nach Deutschland, Österreich und in die Niederlande. Jobsuchende aus Osteuropa reagierten damit deutlich auf die neue Arbeitsmarktlage.
Ein vergleichbarer Trend lässt sich von Süden nach Norden nicht feststellen. Vielmehr deuten die Daten darauf hin, dass viele junge Leute in Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit wieder bei ihren Eltern wohnen, um Miete zu sparen. Das vergrößert den Fiskaldruck und erhöht die Diskrepanz zwischen vorhandenen und geforderten Qualifikationen: Die Chancen, Arbeit zu finden, verschlechtern sich weiter. Viele junge Menschen sind für ihren Job überqualifiziert. Diese Effekte kommen besonders in Spanien und Italien zum Tragen, wo mehr als 30 Prozent der Arbeitnehmer keine passende Stelle gefunden haben.
Die fehlende Arbeitsmarktmobilität lässt sich deutlich am Beispiel Deutschlands zeigen, wo trotz der Krise die Arbeitslosenquote stetig gefallen ist. Nach der Stoßdämpfer-Logik sollte es viele Arbeitnehmer aus der Eurozone anziehen. Deutschland wurde tatsächlich (zusammen mit dem Großbritannien) zum attraktivsten Zielland für EU-Bürger, aber die überwiegende Mehrheit davon kam aus den neuen Mitgliedstaaten. Trotz eines stetigen Anstiegs von Arbeitern aus Spanien, Griechenland und Italien (auf niedrigem Niveau) ist die Zahl der Arbeiter aus den alten EU-15-Ländern (einschließlich Großbritannien, Schweden und Dänemark) in Deutschland seit 1999 nur um 150.000 gestiegen. Allein die Zahl der neuen Arbeitskräfte aus Polen war höher als jene aus allen südlichen Krisenländern zusammen. Von 2010 bis 2014 kamen 24.000 Italiener, 11.000 Spanier, 4000 Portugiesen und 3000 Griechen nach Deutschland - aber 93.000 Rumänen und 73.000 Polen.
Drei Strategien für effizientere Arbeitskräftemobilität
Die Migration von Südeuropa nach Nordeuropa lässt sich vermutlich auf Unterschiede in der Arbeitslosigkeit zurückführen, die aber vergleichsweise gering sind. Das deutet darauf hin, dass im Binnenmarkt Lohndifferenzen eine größere Rolle spielen. Gerade der Ausgleich der Arbeitslosenquoten ist aber für die Stabilität des Euroraums wichtig.
Fakt bleibt, dass die Arbeitskräftemobilität bisher zu gering war, um als echter ökonomischer Stoßdämpfer zu fungieren. Was sollte die Politik also tun? Da alternative Anpassungsmechanismen fehlen, kann höhere Arbeitskräftemobilität nur von Vorteil sein. Wir brauchen für dieses Ziel drei komplementäre Strategien:
1. Arbeitsplätze sollten mobiler werden. Für viele Tätigkeiten ist ein Umzug nicht zwingend nötig. Mittlerweile können viele Arbeitsschritte von daheim oder einem beliebigen Arbeitsplatz aus erledigt werden. Pendeln wurde leichter und billiger, der Umzug ins Ausland dagegen ist teuer. Die Politik sollte sich auf Infrastrukturinvestments für mobile Arbeitsbedingungen konzentrieren.
Hier spielt die Digitalisierung der Arbeitswelt eine große Rolle. Viele spezialisierte Aufgaben können an Selbständige mit flexiblen Arbeitsorten übergeben werden. Ein Beispiel aus der EU für den Ausbau der digitalen Infrastruktur sind Investitionen in Breitbandverbindungen, die im Juncker-Plan im Rahmen der Digitalen Agenda vorgesehen sind. Da aber viele Tätigkeiten, besonders im stetig wachsenden Dienstleistungssektor, weiterhin auf eine permanente Präsenz am Arbeitsplatz angewiesen sind, stellen solche flexiblen Arbeitsplatzlösungen nur einen Teil der Lösung dar.
2. Der Arbeitsmarkt sollte europäischer werden. Mehr Mobilität muss auch durch den Ausbau bereits bestehender europäischer Netzwerke wie EURES erreicht werden, das auf lange Sicht zu einer europäische Arbeitsagentur werden könnte. Das Programm "Your first EURES Job" bietet jungen arbeitslosen Europäern (bis 35 Jahre) die Rückerstattung von Reisekosten und Unterstützung beim Bewerbungsprozess an.
EURES hat allerdings ein Geld- und Bekanntheitsproblem: Die Vermittlungsleistung könnte verbessert werden, wenn es mehr Öffentlichkeitsarbeit und ein größeres Budget gäbe. Bis heute haben nur 15 Prozent der Europäer von diesem Netzwerk gehört. Dazu könnten die nationalen Agenturen Jobsuchende in der ganzen EU vermitteln, indem sie mehr Angebote austauschen und europäische Datenbanken aufbauen.
Logistische Hilfe und größere Kooperation allein werden wahrscheinlich nicht genug sein, um die hohe Arbeitslosigkeit in der EU zu bekämpfen. Vor allem die vielen jungen Arbeitslosen brauchen gezieltere Unterstützung. Da es bisher keinen echten europäischen Arbeitsmarkt gibt, sind besonders europäische Programme vielversprechend, die Ausbildung und Schulung in anderen EU-Ländern fördern. Hier können duale Ausbildungsplätze mit europäischer Hilfe geschaffen werden.
Diese Idee wird von Erasmus Pro für eine Million junge europäische Auszubildende bis 2020 aufgegriffen: 200.000 junge Menschen pro Jahr sollen einen Berufsabschluss im EU-Ausland erlangen, wobei nationale Regierungen, Arbeitgeber und die EU gemeinsam die Kosten für Auswahlverfahren, Vorbereitung und Ausbildung tragen. Erfolgreiche Absolventen hätten nicht nur eine professionelle Qualifikation, sondern auch neue Sprachkenntnisse. Sie könnten damit sowohl im Herkunftsland als auch im Gastland Jobs suchen. Die Initiative löst drei Probleme auf einmal: Sie hilft die Jugendarbeitslosigkeit zu reduzieren, vergrößert für Firmen den Pool von Bewerbern und vermittelt zusätzliches Sprachtraining (und kulturelles Wissen). Alle drei Effekte stärken den Europas Arbeitsmarkt.
3. Die Arbeitskräftemobilität muss durch weitere Ausgleichsmechanismen ergänzt werden. Viele Vorschläge liegen auf dem Tisch. Die Vor- und Nachteile sind hinreichend bekannt. Allen gemein sind Elemente eines zyklischen Anpassungsmechanismus, um die Eurozone besser gegen einen asymmetrischen Schock abzusichern und die Kosten gleichmäßiger zu verteilen. Indem Geld von Regionen und Ländern mit hoher Beschäftigung und Wachstum in strukturschwache Regionen geleitet wird, werden Nachfrage und regionaler Arbeitsmarkt stabilisiert. Um Moral Hazard zu umgehen, könnte der Versicherungsschutz an vorherige Reformen gebunden werden. Einige Reformvorschläge setzen allerdings eine Änderung der EU-Verträge voraus und sind deshalb nicht schnell umzusetzen.
Der zuletzt sprunghaft angestiegene Flüchtlingszustrom bindet im Moment viel politische Aufmerksamkeit und Ressourcen. Die Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt hat zu Recht höchste Priorität. Dies und eine allgemein höhere Arbeitskräftemobilität in der EU sollten einander aber nicht ausschließen. Sie könnten vielmehr komplementäre Ziele sein: Von einem echten europäischen Arbeitsmarkt profitieren alle. Mehr Mobilität kann die Arbeitslosigkeit mindern und die Eurozone zu stabilisieren helfen. Beides ist in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage wichtig.
Eine detailliertere Fassung dieses Kommentars wurde als "Policy Brief" der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik veröffentlicht: www.oegfe.at/policybriefs