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Arbeitslose, Alternative und Kampf um Mieten

Von Christine Zeiner

Europaarchiv

Berlin leidet bis heute unter der Abwanderung der Industrie. | Renate Künast von den Grünen verlangt fair bezahlte Jobs. | Stadtchef Wowereit verweist auf gesunkene Arbeitslosigkeit.


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Berlin. Es ist Nacht. In der U-Bahn-Station stinkt es nach Urin. Oben auf dem Hermannplatz steht eine Toilette, ein kleiner, ovaler Metallbau. Die Tür ist offen. Im Neonlicht sieht man einen Mann und eine Frau - wahrscheinlich Drogenabhängige. Junkies und Alkoholiker gibt es viele auf dem Hermannplatz. Es ist nicht besonders hübsch hier. Auf einer Seite steht das große, graue Gebäude der Warenhauskette Karstadt. Das ist noch Kreuzberg. McDonald’s, Dunkin Donuts und Handyläden sind auf der anderen Seite: das ist Neukölln. Autos rasen vorbei, auf den Straßen hier zeigt man, was der neue Mercedes und der fette SUV hergeben.

Brüchiges Viertel

Vom Hermannplatz weg führt die Sonnenallee Richtung Südosten. Hier gibt es Wettbüros, arabische Schnellimbisse, Modeläden mit üppig-glitzernden Hochzeitskleidern, türkische Bäcker und Elektrogeschäfte. Alles wirkt mehr oder weniger brüchig - wie in ganz Nord-Neukölln: Viele der alten Häuser, teilweise mit Stuck, sehen ungepflegt aus, die Gehwege sind genauso sanierungsbedürftig wie das Kopfsteinpflaster der Seitenstraßen. Kaputte Fernsehgeräte und alte Matratzen liegen auf den Gehsteigen, ebenso jede Menge Hundekot.

Vor dem Café Um Khalthum sitzen vier Männer und rauchen Wasserpfeife. Ein paar Meter weiter der Kosmetiksalon Schmidt ("Manicuere und Pedicuere") und City Chicken, wo sich von früh bis spät die aufgespießten Hühner im Kreis drehen. "Unheimlich lecker und sehr arabisch, quirlig und hektisch" sei es hier, schrieb jüngst das Stadtmagazin "Zitty".

Immer mehr Lokale

Aufgedonnerte junge Frauen in Röhrenjeans und engen T-Shirts, dick geschminkt und mit Kopftuch spazieren auf der Straße. Parallel zur Sonnenallee, in der Weserstraße, stehen viele junge Menschen vor dem "Ä", einem der beliebtesten Lokale im Kiez, wie man die Grätzel in Berlin nennt: Oma-Möbel, Tischfußball, preiswertes Flaschenbier, heruntergekommene Wände.

Das "Ä" eröffnete als eines der ersten Alternativlokale in Nordneukölln und wurde schnell berühmt, auch bei den jungen Touristen. Andere folgten. Allein im vergangenen Jahr sind mindestens fünf neue Lokale im Umkreis des "Ä" dazugekommen. Ihre Einrichtungen sind ähnlich - und alle sind sie gut besucht, an jedem Abend in der Woche. Viele werden von Menschen betrieben, denen es offensichtlich nicht nur ums Geldmachen geht: Man schenkt einen Schluck Wein zum Probieren ein, bietet Bier aus kleinen Brauereien in Deutschland an und plaudert mit den Gästen an der Theke. Ein paar Meter weiter spielt die Besitzerin des Ladens für Hüte aus Plastikgabeln oder Lametta auf einer singenden Säge.

Berlin, das ist für viele die Stadt der niedrigen Mieten, der vielen kleinen Geschäfte, des Improvisierens und Ausprobierens. Heute bekommt man dieses Bild von der Stadt am besten im einstigen West-Bezirk Neukölln mit. Die Zeiten, in denen man im früheren Ost-Viertel Mitte in den heruntergekommenen Altbauten feierte und Kunst machte, sind lange vorbei. Mitte ist heute ordentlich und gepflegt, die Gebäude sind saniert, Wohnen ist dort vergleichsweise teuer. Ähnlich ist es am Prenzlauer Berg, ebenfalls einst Ost-Berlin. Hundertfach wurde über die jungen, schicken Mütter geschrieben, die auf dem Bio-Markt einkaufen, in der einen Hand einen Pappbecher mit Latte Macchiato, in der anderen das durchgestylte Kind. Im gediegeneren Charlottenburg wiederum leben ältere Menschen und Familien, die ihre Kinder nicht in Kreuzberg oder Neukölln aufziehen wollen.

Investoren kommen

In Neukölln also sind Veränderungen derzeit am deutlichsten zu sehen. Ebenso alle Probleme, die Berlin gerade hat: Die Stadt ist mit 63 Milliarden Euro verschuldet. Jedes dritte Kind lebt in einem Haushalt, der das Langzeitarbeitslosengeld Hartz-IV bezieht. 17 Prozent der Viereinhalbjährigen in Berliner Kindergärten sprechen schlecht Deutsch und müssten gesondert gefördert werden - wobei immer mehr Kinder mit Deutsch als Muttersprache Defizite haben. Vor allem ein Problem aber zieht sich durch fast alles Stadtteile: steigende Mieten. Die Lage sei in seinem Bezirk ähnlich wie in Neukölln, nur auf höherem Niveau, so Ansgar Gusy von den Grünen in Charlottenburg. "Es gibt einen verstärkten Wohnungskauf von Investoren. Das bringt Druck auf die Mieten."

"Yuppiepack verpiss dich aus Neukölln" hat jemand auf die Hauswand des "Ä" gesprayt. Neukölln ist attraktiv geworden, für Wohnungssuchende und damit für Investoren. Die Mieten sind meist deutlich niedriger als in beliebten Bezirken wie Friedrichshain oder Kreuzberg. Sie steigen aber auch hier.

"Gegen Aufwertung und Verdrängung" und "Mieten runter, Löhne rauf", stand bis vor kurzem auf Transparenten, die an einer Fassade wenige Meter entfernt in der Weichselstraße hingen, gleich ums Eck vom Kanal mit den alten Bäumen. Am Wochenende trifft man dort am Wasser mittlerweile auffallend viele Spaziergänger zwischen Mitte zwanzig und Anfang vierzig. "Wir bleiben alle" hängt nun an der Fassade. Das Haus hat neue Eigentümer, die es modernisieren wollen. Die Bewohner fürchten, ausziehen zu müssen, weil sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können.

Arbeitslosenbezirk

"Wohnraum für alle! Statt Edelkiez" hat jemand in der Herrfurthstraße auf eine Hauswand geschrieben. Ein paar Meter weiter schließt der Hausverwalter eine Wohnung auf. Es riecht nach frischer Farbe: Vor der Renovierung habe es hier ausgesehen, man könne sich das gar nicht vorstellen. Aber schön langsam würden die Langzeitarbeitslosen in der Umgebung weniger, die könnten sich die Mieten nicht mehr leisten.

Aus dem einstigen Arbeiterbezirk Neukölln wurde ein Arbeitslosenbezirk. Nach der Wende lief die Berlin-Förderung aus, Industriebetriebe wanderten ab. Die grüne Spitzenkandidatin Renate Künast sagt, jeder dritte Arbeitsplatz in Berlin sei "prekär", man müsse "fair bezahlte, dauerhafte Jobs im wenig qualifizierten Bereich" schaffen. Der amtierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) verweist darauf, dass die Regierung die Arbeitslosenquote "von 20 Prozent Schritt für Schritt gesenkt" habe. Im August betrug sie 13,3 Prozent. Nach der Wahl am Sonntag könnten Sozialdemokraten und Grüne eine Regierung bilden. Man habe jedenfalls die größten Überschneidungen, heißt es von beiden Seiten.

Dass sich "gekippte Viertel" wandeln und belebter werden, begrüßen Wowereit und Künast. Beide treten aber auch für ein "Korrektiv" ein, nämlich für zusätzlich tausende Wohnungen im Landeseigentum. Diese sollen auf den Markt "dämpfend" wirken. Künast fordert außerdem eine "Modernisierung in Stufen": Maßnahmen wie Wärmedämmung, ordentliche Fenster und moderne Heizungen seien gut fürs Klima und letztlich für den Geldbeutel. Von Fall zu Fall müsse entschieden werden, was sinnvoll sei, damit die Miete nicht "hochgeht".

"Die Mischung der Bewohner in Neukölln ist heute schöner als früher", sagt Hanadi Mourad. Doch eine neue Wohnung zu finden, das sei wirklich schwierig. Auch Mourad ist auf der Suche. Mit ihrer Familie braucht sie mehr Platz. "Ich möchte aber nicht nach Gropiusstadt", sagt sie. Der Sozialbaukomplex, eine Trabantenstadt in Neukölln, hat keinen guten Ruf. Doch was tun, wenn man sonst keine leistbare Wohnung findet - oder keine bekommt, weil man ein Kopftuch trägt, einen arabischen Namen hat und es auch genügend deutschstämmige Bewerber gibt?

Weniger Gelder

Mourad ist vor zwanzig Jahren als Flüchtling aus dem Libanon gekommen. Heute ist sie "Stadtteilmutter", eine Brückenbauerin zwischen den Kulturen: Mourad unterstützt andere Mütter im täglichen Leben, hilft bei Schulproblemen und bei der Suche nach Deutschkursen und gibt Tipps zum Thema gesunde Ernährung. Gefördert wird das Projekt vom Arbeitsamt, vom Bezirk und von der Diakonie. Auch "Quartiersmanager" helfen beim Zusammenleben, sie richten Bibliotheken ein, unterstützen bei Hausaufgaben und Bewerbungen, organisieren Ausflüge und Kiezputztage. Doch die Bundesregierung hat dem Programm Gelder gestrichen.

Der Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) sagt, in ein paar Jahren könnte Neukölln wie der Londoner Stadtteil Brixton sein. Dort könne man sehen, was passiere, wenn man eine "nicht-integrierte Bevölkerungsschicht" entstehen lasse, die für sich selbst keine Chance sehe. Vom umstrittenen Autor des Buches "Deutschland schafft sich ab", Thilo Sarrazin, hat sich Buschkowsky einen Teil des Wahlkampfs finanzieren lassen. Manch ein Neuköllner nennt Buschkowsky einen "Provinzpopulisten", der in seiner Kolumne in der "Bild"-Zeitung gern provoziere. Andere sind froh, dass "endlich ein Politiker Probleme ausspricht".

Auf der Sonnenallee in "Simone’s Biergaststätte", die bis vor kurzem noch "Simone’s Bier und Speisegaststätte" hieß, trinken am frühen Nachmittag fünf ältere Männer und zwei Frauen Bier.

Das Flensburger kostet hier 1,50 Euro. Hat sich in Neukölln viel verändert in den letzten Jahren? "Ja", dröhnt es durch den Raum. "Die Landessprache!" Die Männer lachen. "Und die Alternativszene wird größer", sagt einer. "Die machen immer schön Krach." Wen sie wählen werden? "Ungültig", sagt eine Frau. Man werde ja doch nur enttäuscht und belogen von den Parteien. "Rot oder Grün", sagt der Mann neben ihr. "Ich bin ein Arbeiterkind. Und Wowereit ist charmant. Künast ist mehr Brain und Inhalt."