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Buenos Aires - Nur knapp vier Monate nach ihrem Amtsantritt ist die argentinische Regierung unter Präsident Eduardo Duhalde in ihre tiefste Krise geraten. Der Rücktritt von Wirtschaftsminister Jorge Remes Lenicov kommt dem Scheitern aller bisherigen Bemühungen um eine Überwindung der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise in der Geschichte des Landes gleich.
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In seiner Not suchte Duhalde in der Nacht auf Mittwoch die Unterstützung der einflussreichen Gouverneure. Damit macht er jedoch ausgerechnet den Bock zum Gärtner.
Bisher hatte er zusammen mit Lenicov versucht, die Provinzen zu Haushaltsdisziplin und einem Ende der Schuldenmacherei zu zwingen. Dies war eine der wichtigsten Bedingungen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die meisten Provinzen drucken sich ihr Geld einfach selbst und durchkreuzen damit jede Geldmengenpolitik. In extremen Fällen haben einzelne Provinzen seit Jänner bereits Bonds im Umfang von mehr als 120 Prozent ihrer erwarteten Steuereinnahmen für das ganze Jahr in Umlauf gebracht.
Ein auf Dauer angelegtes Wirtschaftsprogramm muss nach einhelliger Meinung von Finanzexperten mit diesen Missständen aufräumen. Das hat auch Duhalde immer wieder betont. Aber die soziale Lage ist derart gespannt, dass die Umsetzung der IWF-Forderungen mit großer Wahrscheinlichkeit eine Explosion auslösen würde.
Das Bruttoinlandsprodukt wird dieses Jahr voraussichtlich um etwa 15 Prozent schrumpfen. Und dies gilt noch als optimistische Prognose. In der Provinz San Juan kam es Dienstag wieder zu gewaltsamen Protesten von Staatsangestellten, die seit Monaten nur noch sporadisch bezahlt worden sind. Dabei wurden 15 Menschen verletzt.
Eine Frau, die bei der Schilderung der Unterernährung ihrer Kinder vor laufender Kamera in Ohnmacht fiel, kam sofort wieder auf die Beine, als Umstehende sie ins Krankenhaus bringen wollten. "Um Gottes Wille, nur das nicht", rief die Frau angesichts der katastrophalen Verhältnisse im Gesundheitsbereich. Wer behandelt werden will, muss sogar einfaches Verbandszeug mitbringen, von Medikamenten ganz zu schweigen. Zu essen gibt es jeden Tag einen Teller Reis.
Selbst in der als vergleichsweise wohlhabend geltenden Provinz Buenos Aires rund um die gleichnamige Hauptstadt ist fast nur noch Provinzgeld, so genannte Patacones, im Umlauf. Bei einer Arbeitslosigkeit irgendwo zwischen 20 und 30 Prozent - so ganz genau weiß das keiner mehr - führt jede Einsparung unmittelbar zu mehr Mangelernährung und Not. Lebensmittelgeschäfte im früheren Speckgürtel um die Millionenmetropole berichten von einem dramatischen Einbruch beim Umsatz. Nur der Absatz billigen Weißbrots sei explodiert.
Ein Ausweg aus dem Schlamassel ist nicht in Sicht. Der Bruch mit dem IWF, wie ihn immer mehr Argentinier fordern, wird höchstens den Nationalstolz kurzfristig beflügeln, nicht aber die Wirtschaft. Die Überwindung jahrzehntelanger Fehlentwicklungen sei einfach "nicht von heute auf morgen" zu bewerkstelligen, hatte Duhalde immer wieder um Verständnis gebeten. Der Hunger und die Verzweiflung der etwa 50 Prozent Argentinier, die bereits unterhalb der Armutsgrenze leben, lässt jedoch keine Zeit mehr für langfristige Strategien.