Ein Jahr nach dem Ausbruch des Volksaufstandes, der Staatschef De la Rúa zur Flucht zwang, ist das Land am Río de la Plata noch weit entfernt von der Rückkehr zur Normalität. Die Regierung von Präsident Duhalde sieht den Großdemonstrationen zum Jahrestag am morgigen Donnerstag mit großer Nervosität entgegen und konzentriert Tausende Soldaten und Polizisten in der Hauptstadt.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 21 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Am 19. und 20. Dezember des Vorjahres ergoss sich ein großes Heer von Bewohnern der Elendsviertel und Vorstädte der argentinischen Hauptstadt, Arbeitslose, Müllsammler, zukunftslose Jugendliche, ins Zentrum von Buenos Aires, plünderte Supermärkte, lieferte der Polizei Straßengefechte. Dort vereinigten sie sich mit dem Mittelstand, der der Regierung, die anfangs des Monats die Sparguthaben einfrieren ließ, den Kampf angesagt hatte. Staatschef Fernando de la Rúa flüchtete in einem Hubschrauber aus dem Präsidentenpalast an der Plaza de Mayo. In den darauffolgenden zwei Wochen nahmen drei weitere Politiker stunden- bis tagelang das höchste Staatsamt ein, bis schließlich Eduardo Duhalde, ehemaliger Vizepräsident und Gouverneur der mächtigen Provinz Buenos Aires, den Regierungsvorsitz für die restliche Amtszeit De la Rúas übernahm.
Nervosität vor den angekündigten Großdemos
Am Vorabend des Jahrestages dieser Ereignisse ist das Land weit entfernt davon, die tiefe wirtschaftliche und politische Krise, die vor zwölf Monaten offen ausgebrochen war, zu bewältigen. Nach Ansicht der meisten ArgentinierInnen steht das Land heute noch schlechter da als vor einem Jahr. "Que se vayan todos!" - Alle sollen gehen, also die ganze Politikerklasse, die das Land in den letzten Jahrzehnten in diese Situation geführt haben: diese Devise der heißen Dezember-Tage des Vorjahres ist immer noch einer der meistgehörten Sätze in Argentinien. "Que se vayan todos!" hat sich zu einer radikalen und breiten Widerstandsbewegung entwickelt, der zahlreiche soziale und politische Gruppierungen und neu entstandene Basisorganisationen angehören. Die berüchtigten Piqueteros (Verbände von Arbeitslosen, die die Straßenblockade - piquete - als Mittel des Protestes entwickelt haben), Obdachlose, Pensionistenorganisationen, verschiedenste Interessensverbände der marginalisierten Bevölkerung, Stadtviertelbewegungen - sie alle haben für den 20. Dezember zu Demonstrationen in der Hauptstadt und in den großen Städten des Landes aufgerufen. Und die Regierung hat in Buenos Aires Tausende von Soldaten und Polizisten zusammengezogen und Sondereinheiten zum Schutz der Supermärkte bereitgestellt. Die Angst vor gewalttätigen Auseinandersetzungen ist groß. Die Rechtsanwaltskammer - mit 100.000 Mitgliedern eine der wichtigsten Interessensvertretungen in Argentinien - stellt ein Team von 40 Moderatoren zur Verfügung, um zwischen Piqueteros und der Polizei zu vermitteln, auch die katholische Kirche versucht, einen Dialog zwischen Ordnungskräften und Demonstranten in Gang zu setzen.
Die Armut wächst
Die Bilder von den verhungerten Kindern in der nördlichen Provinz Tucumán (die "Wiener Zeitung" berichtete), die seit Mitte November die argentinischen Medien überschwemmen, haben dem ohnehin schon stark angeknackten Selbstwertgefühl der stolzesten und einst reichsten Nation Lateinamerikas einen weiteren Tiefschlag versetzt. Doch die statistischen Angaben sprechen für sich und zeigen, dass Tucumán kein Einzelfall war. Argentinien ist binnen kürzester Zeit an den unteren Rand der Elendsskala in Lateinamerika gerutscht. 53,8 Prozent der 36 Millionen ArgentinierInnen leben heute unter der Armutsgrenze, 23,7 % bereits in extremer Armut.
Menem 2003. Menem 2003. Menem 2003 - in fast endloser Reihe zieren diese Plakate mit weißer Schrift auf blauem Grund die von den Stadtautobahnen aus sichtbaren Häuserwände genauso wie die verfallenen Mauern in den Vorstädten. Carlos Menem hat als erster den Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen vom 27. April des kommenden Jahres eröffnet, noch bevor er überhaupt zum Kandidaten gekürt wurde. Der zweimalige Präsident Argentiniens in den 90er-Jahren, dessen Wirtschafts- und Finanzpolitik die Hauptverantwortung für die vor einem Jahr offen ausgebrochene Krise trägt, zieht im Hintergrund mit Geschick und viel Geld die Fäden für seine Wiederwahl. Auf den ersten Blick erscheint es unglaublich: Jener Politiker, auf dem zahlreiche Korruptionsvorwürfe lasten - die jedoch von der Justiz nicht weiterverfolgt werden -, der in seiner zehnjährigen Amtszeit nicht nur die Basis für das wirtschaftliche Chaos, sondern auch für eine veritable Staatskrise gelegt hat, könnte auf legalem Weg in den Präsidentenpalast zurückkehren.
Der Kampf um die Kandidatur in den Reihen der Peronisten ist schon vor Monaten entbrannt. Die früheren Parteifreunde Duhalde und Menem sind heute erbitterte Erzfeinde. Vermutlich wird am 23. Februar bei Vorwahlen innerhalb der Peronistischen Partei ihr Kandidat bestimmt.
Menem arbeitet schon seit Monaten mit einem umfangreichen Team an der Ausarbeitung seines Regierungsprogramms, das starke Züge eines autoritären Regierungssystems mit dem Militär als wichtiger Stütze trägt. Erst kürzlich hat er mit seiner Ankündigung, im Falle seiner Wiederwahl die Armee gegen die Piqueteros einsetzen zu wollen, grosses Aufsehen erregt. Sie wurden vom Expräsidenten öffentlich als "maskierte Bewaffnete, die die Gesellschaft in Geiselhaft nehmen", kriminalisiert.
"Schlimmer kann es nicht mehr werden"
Obwohl die objektiven Bedingungen für ein Erstarken der Linken in Argentinien heute so günstig wären wie noch nie, stellt sie durch ihre starke Zersplitterung für die Bevölkerung keine Alternative dar. "Wir brauchen dringend eine sozialistische Regierung im Dienste der arbeitenden Menschen", erzählt Patricia Walsh, Vorsitzende und Präsidentschaftskandidatin der Izquierda Unida, einem Bündnis mehrerer linker Parteien und sozialer Organisationen. Für sie hat der Stopp der Rückzahlungen an Weltbank und Währungsfonds höchste Priorität. Auf die Frage, ob sie denn nicht die zu erwartenden Repressalien der Finanzinstitutionen fürchte, meint die Linskabgeordnete, deren Vater Rodolfo Walsh, ein berühmter Schriftsteller und Intellektueller, von der Militärdiktatur ermordet wurde: "Schlimmer als in der gegenwärtigen Situation kann es durch die Sanktionen des Währungsfonds auch nicht werden."
Tatsächlich ist die Finanzsituation des Landes äußerst prekär, auch wenn die Regierung gerne von einer wirtschaftlichen Erholung und Normalisierung spricht. Der 13. Dezember zum Beispiel verstrich, ohne dass ein einziger Dollar an die Weltbank überwiesen wurde. An diesem Tag lief die letzte Frist für die Rückzahlung von 726 Mill. US-Dollar ab. Die Reaktion aus Washington kam unvermittelt: Es beginne nun ein für solche Fälle vorgesehener Mechanismus in Kraft zu treten, und der sehe die Einstellung aller Zahlungen, auch von bereits bewilligten Krediten und Hilfsprogrammen, vor, verkündete die Weltbank. Im kommenden Jänner wird die Rückzahlung von 1,1 Mill. Dollar an den Währungsfonds fällig. Im wahrscheinlichen Fall der Nichtzahlung wird Argentinien auf eine "schwarze Liste" gesetzt, auf der u.a. Libyen, Irak und Iran stehen.
Asamblea Popular - Volksversammlung - auf der Plaza Dorrego im Herzen von San Telmo, neben La Boca das älteste Viertel von Buenos Aires. Hier, wo jeden Sonntagvormittag der malerischste Flohmarkt von Südamerika stattfindet, treffen sich jeden Dienstagabend zwischen 50 und 80 Leute aus dem Viertel. Diesmal ist die Vorbereitung der Aktivitäten für den 19. und 20. Dezember das Hauptthema.
Die Diskussion ist wortreich und könnte aus dem Blickwinkel eines europäischen Beobachters gesehen auch straffer geführt werden, doch sie verläuft ziemlich diszipliniert. Hitzköpfe, die sich nicht an die Rednerlisten halten, werden von der Moderatorin zur Ordnung gerufen; Entschlüsse werden durch Abstimmungen gefasst, deren Ergebnis dann ohne Murren von allen akzeptiert wird. Es wurde u.a. beschlossen, das Wochenende für Vorbereitungsarbeiten zu nützen; eine Gruppe wird Plakate vorbereiten, eine andere sich um die Verpflegung kümmern, eine dritte ein künstlerisches Begleitprogramm ausarbeiten. Am 20. Dezember wird dann gemeinsam zum Kongress marschiert und anschliessend, zusammen mit Zigtausenden, vielleicht Hunderttausenden, zur Plaza de Mayo, dem grossen Platz vor dem Präsidentenpalast.
Wenn an diesem Donnerstag an der Plaza über 200.000 Menschen demonstrieren, so müsste Duhalde eigentlich verschwinden wie De la Rúa ein Jahr zuvor, meinen einige. Doch was wird danach passieren? Die traditionelle Politikerklasse macht keine Anstalten, dem Ruf nach ihrem Abgang Folge zu leisten. Und der wohl breit gefächerte, doch stark fragmentierte und politisch ziemlich orientierungslose Widerstand scheint noch nicht reif für die Übernahme der Regierungsgewalt - auch wenn der Wahlsieg von Lula (Luiz Inacio Lula de Silva) in Brasilien die Einsicht fördert, dass nur eine breite Allianz von sozialen, politischen und gewerkschaftlichen Bewegungen eine Alternative zur herrschenden Macht darstellen könnte.
*
Der Autor ist Redakteur der in Wien erscheinenden Zeitschriften "Südwind" und "Lateinamerika anders".