Die Bevölkerung muss mit sich zyklisch wiederholenden Wirtschaftskrisen kämpfen - und jetzt auch noch mit Covid-19.
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Buenos Aires wirkt wie die ausgelagerte Enklave einer europäischen Metropole, die Rom und Madrid verbindet. Der französische Schriftsteller André Malraux meinte bei seiner Ankunft, dies sei die Hauptstadt eines Imperiums - aber wo ist das Imperium? Der spanische Philosoph Ortega y Gasset hat von Argentinien behauptet, den Menschen im Land mangle es an Verantwortungsbewusstsein, sie seien egozentrisch, und jeder sähe in sich den Nabel der Welt. Beide haben sie recht, allerdings ist Gassets Erkenntnis die Haupthypothek des Landes geblieben. Die Selbstverliebtheit der Argentinier führt dazu, dass sie alles ausklammern, was ihr positives Bild von sich stört (Energiekrise, hohe Kriminalität, Rechtsunsicherheit, Korruption, schwache demokratische Institutionen, galoppierende Inflation).
In fünf Jahren Aufenthalt in Buenos Aires (2006 bis 2010) konnte ich die fortschreitende Verschlimmerung der Situation der öffentlichen Sicherheit in der Stadt täglich miterleben. Sicher ist man nur im Zentrum - und auch dort nicht überall. Der Touristenanziehungspunkt La Boca ist zumindest für nächtliche Besuche nicht zu empfehlen. Die Vororte sind mit Vorsicht zu genießen, man muss also unterscheiden zwischen sicheren wie San Isidro, oder weniger sicheren wie Malvinas Argentinas oder La Matanza, ganz zu schweigen von den Slums. Besuche bei Bekannten in Hurlingham etwa legte ich möglichst aufs Wochenende, wenn die unter der Woche hoffnungslos überfüllten Vorortzüge weniger voll und auch weniger gefährlich waren. Außerdem mied ich als gefährlich geltende Bahnhöfe wie Once oder Constitución und versuchte alle Fahrten so zu legen, dass ich die Rückfahrt nicht spät am Abend antreten musste.
Aber der Durchschnittsargentinier muss nicht nur jeden Tag mit der mangelnden öffentlichen Sicherheit kämpfen, sondern auch immer wieder mit Wirtschaftskrisen. Und die Coronavirus-Pandemie hat das Land im wahrsten Sinne des Wortes auf dem falschen Fuß erwischt. Denn gerade im Augenblick ist das Land (wieder einmal) ein Spiegel des "circulo vicioso" der argentinischen Wirklichkeit, die aus zyklisch wiederkehrenden Krisen besteht, die immer nach einem ähnlichen Muster ablaufen.
Vom Coronavirus auf dem falschen Fuß erwischt
Die argentinische Regierung steht wieder vor einer Aufgabe, die selbst einen Sisyphos verzweifeln lassen könnte. Obgleich sie alle juristischen Winkelzüge nutzt, um ihre weltweiten Schuldner weiter im Regen stehen zu lassen. Nach den Umschuldungsaktionen 2005 und 2010 steht das Land wieder vor der Notwendigkeit, mit seinen internationalen Gläubigern - IWF, Club von Paris, Hedgefonds etc. - eine möglichst wenig schmerzhafte Vereinbarung zur Schuldentilgung zu schließen, und der Schulden und Gläubiger gibt es viele. Aufgrund des mangelnden Zutritts zum internationalen Kapitalmarkt ist Argentinien gezwungen, Geld zu drucken und sich intern bei der Zentralbank sowie bei Institutionen wie der Sozialversicherung und der Rentenversicherung zu verschulden (wer deren dadurch auflaufende Defizite einst bezahlen soll, weiß niemand). Wer kann einem solchen Staat mit einer solchen Kredithistorie trauen? Niemand!
In der Corona-Krise bescheinigt man dem erst seit einigen Monaten im Amt befindlichen Präsidenten Alberto Fernández, mit seinen rasch ergriffenen einschneidenden Quarantänemaßnahmen bisher einen guten Job gemacht zu haben. Allerdings hat sein Land dafür schon jetzt einen hohen Preis bezahlen müssen. Argentiniens Wirtschaft steht krisenbedingt bis auf wenige Branchen praktisch still oder musste ihre Aktivitäten so herunterfahren, dass eine rasche Erholung reines Wunschdenken wäre.
Im Herbst, der dem argentinischen Frühling entspricht, sind soziale Unruhen wahrscheinlich, zumal in Argentinien ein soziales Sicherungsnetz praktisch nicht existiert. Denn gut die Hälfte der Arbeitnehmer ist in der informellen Wirtschaft beschäftigt, ohne jeden Kündigungsschutz, Anspruch auf Arbeitslosengeld oder eine Krankenversicherung.