Als 1938 das geschah, was er hatte kommen sehen, war er bereits in Sicherheit. Die Nachricht vom Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich und vom umjubelten Auftritt Hitlers am Wiener Heldenplatz erreichte Karl Popper in Neuseeland, wo er schon seit einem Jahr am "University College of Canterbury" in Christchurch Philosophie unerrichtete.
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Das College war Teil der "University of New Zealand" und Christchurch der Hauptsitz der Universität auf Neuseelands Südinsel. Etwa 1100 der rund 100.000 Einwohner von Christchurch waren Studenten. Das war zwar eine kleine Universität mit einem weitgehend verschulten Lehrbetrieb, nicht vergleichbar mit einer der großen europäischen Universitäten und deren intellektuellen Standards und Forschungsmöglichkeiten, aber immerhin: Bei der Qualitätskontrolle des Lernstoffs gab es doch eine Anbindung an internationale Standards. In die Bewertung der Abschlussarbeiten ging auch ein Urteil ein, das man in England angefordert hatte.
In Christchurch hatte Karl Popper seine erste akademische Stelle gefunden. Zwar hatte er sich schon in den Jahren nach 1930 in Wien durch seine Beiträge zur Diskussion um Probleme der Philosophie und Methodik der Naturwissenschaften, zur Mathematik und Physik große internationale Reputation verschafft - vor allem durch sein 1934 erschienenes Buch "Logik der Forschung". Für seine Kritiker aber war er bloß ein ungewöhnlich interessierter und kompetenter Wiener Hauptschullehrer, der auf Grund seiner jüdischen Herkunft und "sozialistischen" Vergangenheit - heute würde man seine damaligen Ansichten "sozialdemokratisch" nennen - in Österreich keine akademischen Chancen hatte.
Christchurch war die Rettung. Popper war verpflichtet, alle Vorlesungen über Philosophie und Logik zu halten und er muss ein faszinierender Vortragender gewesen sein. (Malachi Haim Hacohen hat in seinem außerordentlichen Buch über Poppers frühe Jahre zahlreiche Zeugnisse dafür gesammelt.) In seinen Vorlesungen und Seminaren ging Popper wie ein Naturwissenschafter vor: in seinem stark Wienerisch gefärbten und noch unbeholfenen Englisch versuchte er, das Interesse seiner Schüler durch die eindringliche Schilderung eines Problem zu wecken, bevor er skizzierte, welche Lösungen bisher für das Problem vorgeschlagen worden waren, gefolgt von einer kritischen Diskussion der Vor- und Nachteile dieser Vorschläge.
Seine Studenten waren begeistert. Wenn Popper - oft vereinfachend im ersten Einstieg und mit didaktisch effektiven Metaphern abseits des Berufsjargons der Philosophen vortragend - die Problemsituation rekonstruierte, erlebten sie das Denken in Aktion.
In seinem ersten neuseeländischen Jahr hatte Popper noch versucht, an jenen Themen weiter zu arbeiten, die zur Zeit seiner überstürzten Abreise aus Wien noch nicht für eine Veröffentlichung reif gewesen waren. Dann aber traf die Nachricht von den Ereignissen des März 1938 ein. Popper versuchte anfangs noch über die wenigen Kanäle, die ihm offenstanden, bedrohten Österreichern Visa zur Einwanderung in Neuseeland zu verschaffen. Bis zum Überfall der Nazis auf Polen im Jahr 1939 gelang ihm und seinen Freunden das auch in 39 Fällen, aber das Gefühl der Ohnmacht blieb. Popper war von den Geschehnissen in Wien auch persönlich betroffen: sechzehn Mitglieder seiner Familie haben die Nazi-Herrschaft nicht überlebt.
Ein "Kriegsbeitrag"
Direkt aktiv zu werden, wie andere Intellektuelle, die nicht an einem Ort "auf dem halben Weg zum Mond" lebten, erschien Popper nicht adäquat, nachdem es die neuseeländische Armee "aus Gesundheitsgründen" abgelehnt hatte, einen staatenlosen Ausländer als Freiwilligen zu rekrutieren. (Wittgenstein, ein Leben lang Poppers Rivale um die Reputation unter Philosophen, hat 1941 im unmittelbar bedrohten England diesen Weg gewählt und sich entschlossen, als Apothekenbote in einem Spital zu arbeiten.)
Popper entschied sich in dieser Situation dafür, fast alle anderen Arbeiten zurückzustellen und sich vorwiegend auf das zu konzentrieren, was er später seinen "Kriegsbeitrag" genannt hat. Freilich leistete er diesen Beitrag weder durch die ineffektive Demonstration hilfloser Solidarität im Kampf gegen das totalitäre Naziregime noch durch die Übernahme von Arbeiten, die andere auch hätten leisten können. Es ging ihm auch nicht um eine geschichtliche Analyse jener politischen Entscheidungen, die Österreich schließlich zugrunde gerichtet hatten. Stattdessen bemühte er sich um die Klarlegung der philosophischen Wurzeln der Ideologien, durch die Täter und Mitläufer des Terrors ihre Handlungen legitimiert sahen. Er schrieb in der Hoffnung, in die Zukunft zu wirken zu können und dadurch zur Verhinderung neuer Blutbäder beizutragen, welche totalitären Regimen stets vorangehen und sie begleiten.
Popper hatte schon in seinen letzten beiden Wiener Jahren sozialphilosophische Skizzen, die sich aus seinen Arbeiten zur Methodik der Naturwissenschaften ergaben, niedergeschrieben und in Vorträgen zur Diskussion gestellt - zuletzt im Jänner 1936 im Seminar Friedrich Hayeks an der London School of Economics. Unter extrem ungünstigen äußeren Bedingungen ging Popper jetzt in Christchurch daran, sein Vorhaben auszuführen. Es gab damals in der dortigen Universitätsbücherei nur etwa 40 philosophische Bücher aus dem 20. Jahrhundert, das neueste von ihnen war bereits zehn Jahre alt; und es gab nur eine einzige philosophische Zeitschrift und keinen Katalog. Die gesamte Universitätsbücherei umfasste etwa 15.000 Bände und war damit kaum umfangreicher als die Bibliothek von Poppers Vater, die in seinen frühesten Jugenderinnerungen immer gegenwärtig war: der Blick von dort wanderte nur einige hundert Meter die Jasomirgottstraße entlang auf die Westfassade des Stephansdoms.
Die Erfahrungen, die Popper in Christchurch niederschrieb, hatten nicht nur biografisch, sondern auch intellektuell ihren Ursprung in Wien. Einsteins Relativitätstheorie wurde natürlich überall dort besprochen, wo es um theoretische Physik ging; aber in Wien geschah im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts sehr viel mehr: im "Wiener Kreis" und seinem Umfeld wurden die philosophischen Implikationen der neuen Physik sowie die Grundlagen von Mathematik und Logik neu diskutiert, die "Neue Wiener Schule" eröffnete ein neues Kapitel der Musikgeschichte, die psychoanalytischen Theorien von Sigmund Freud und Alfred Adler entstanden hier ebenso wie die politischen Philosophien, die sich auf eine Kenntnis der Gesetze der Geschichte beriefen - von marxistischen Geschichtstheorien hin zum Gebräu der Nazi-Ideologen. Popper hatte - mehr als jeder andere - persönliche Erfahrungen mit mehreren Kreisen, in denen damals das Neue entstand.
Sein "Kriegsbeitrag" bestand aus zwei Büchern, die heute zu Klassikern der politischen Philosophie zählen: In seinem Werk "Das Elend des Historizismus" zeigte er, dass es "unerbittliche" Gesetze der Geschichte, welche es möglich machen, den Wandel ganzer Gesellschaften vorherzusagen, nicht geben kann. Wer sich auf die Analogie zu Naturgesetzen beruft, um historische Prophezeiungen plausibler erscheinen zu lassen, hat nämlich nicht verstanden, was Naturgesetze sind. Alles was möglich ist, sind Extrapolationen von Trends, die nur solange hilfreich sind, als jene Voraussetzungen gelten, die den Trends zugrunde liegen. Poppers Plädoyer wurde zu einer Theorie des demokratischen Wandels in kleinen Schritten - Politik, die immer offen ist für eine Revision getroffener Entscheidungen, die immer dann notwendig wird, wenn die Voraussetzungen sich so sehr geändert haben, dass es nicht hinnehmbare negative Folgen hätte, an alten Vorgaben festzuhalten.
Gegen Platon und Hegel
Wieso es möglich war, unter Berufung auf angemaßtes Wissen totalitäre Herrschaftsformen zu legitimieren, ist der Inhalt des zweiten Teils von Poppers "Kriegsbeitrag": das zweibändige Werk: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde".
Band 1 ist dem "Zauber Platons" gewidmet. Wie alle Philosophen bewundert auch Popper Platon - vor allem dessen frühe Schriften. Später hat sich der Philosoph - in Poppers Sicht - jedoch in einen verwandelt, der den Wandel der geschlossenen athenischen Gesellschaft in eine viel offenere und liberalere Gesellschaft aufhalten wollte und dabei Ansichten vertrat, auf die jeder, der totalitäre Herrschaftsformen intellektuell respektabel erscheinen lassen will, seither zurückgreifen kann. (Ein Service, das totalitäre Machthaber gerne akzeptieren.)
Band 2 behandelt unter dem Titel "Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen". Dieser Band ist eine gnadenlose Polemik gegen Hegel, den Popper - wie andere vor ihm, vor allem natürlich Schopenhauer - für einen Scharlatan hielt, dessen Aufstand gegen die Vernunft nach der Übernahme der Hegelschen Dialektik durch Marx schreckliche Folgen hatte.
Popper analysiert detailliert die geschichtlichen Prophezeiungen von Marx und zitiert ihn als warnendes Beispiel dafür, wie moralische und emanzipatorische Intentionen durch die Berufung auf vermeintlich wissenschaftliche historische Gesetze so weit in die Irre führen können, dass sie nur durch von Hegel inspirierte dialektische Argumente zu retten sind.
Kritik und Anerkennung
Überflüssig zu sagen, dass Poppers polemischer Rundumschlag auf wütende Kritik stieß. Es galt einige Zeit lang unter Platonikern, Hegelianern und Marxisten als unverzeihlich schlechtes Benehmen, Popper auch nur zu erwähnen. Doch selbst unter den Philosophen gab es immer sehr prominente Dissidenten. Bertrand Russel schrieb, dass Poppers Sicht von Platon zwar "unorthodox" sei, aber seiner Ansicht nach "voll gerechtfertigt". Und Gilbert Ryle, der selbst ein renommierter Platon-Kenner war, meinte, dass man nach Popper Platon anders lesen müsste.
Als der Oxforder Philosoph Simon Blackburn unlängst eine kurze Einführung zu Platons "Der Staat" schrieb, empfahl er Poppers Band vom "Zauber Platons" als "ein Meisterstück kluger Polemik, und so klar, wie man sich das nur wünschen kann".
Es ist mittlerweile von Politikern aller Richtungen anerkannt worden, dass Popper in diesen Büchern eine Theorie der offenen Demokratie vorgeschlagen hat - eine Demokratie also, in der sich, ohne historische Prophezeiungen zu strapazieren, aus Fehlern lernen lässt, während man Regierungen, die diesen Lernprozess verweigern, ohne Gewalt loswerden kann.
Popper hat seinem schmalen Band über das "Elend des Historizismus" in späteren Auflagen folgende Widmung vorangestellt: "Dem Andenken ungezählter Männer, Frauen und Kinder, aller Länder, aller Abstammungen, aller Überzeugungen, Opfer von nationalistischen und kommunistischen Formen des Irrglaubens an unerbittliche Gesetze eines weltgeschichtlichen Ablaufs."
Popper schrieb diese beiden Bücher zwar in einer bestimmten historischen Situation, vor dem Hintergrund der österreichischen Geschichte mit dem selbst verursachten Niedergang einer anfangs noch relativ offenen, kulturell reichen Gesellschaft über die Abschaffung demokratischer Institutionen bis hin zu ihrem gewaltsamen Ende im März 1938. Aber seine Analyse und seine Warnung vor intellektueller Verbrämung politischer Entscheidungen, die in solche Richtung führen, reichen über Österreich und den historischen Anlass hinaus: sie sind von ungebrochener Aktualität.
Peter Markl ist Professor für Analytische Chemie an der Universität Wien, wo er auch Methodik der Naturwissenschaften lehrt. Er ist Mitglied des Konrad Lorenz-Instituts für Evolution und Kognitionsforschung sowie des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.