Ariel Muzicant spricht mit der "Wiener Zeitung" über die Gründe Israels für den aktuellen Libanon-Krieg - und er erklärt, wann aus berechtigter Kritik an Israel Antisemitismus wird.
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"Wiener Zeitung" : Sie waren vor kurzem in Haifa und haben sich ein Bild gemacht. Sind die Menschen dort für oder gegen eine Fortführung des Kampfs gegen die Hisbollah?
Alle, mit denen ich gesprochen habe, haben gesagt, dass es furchtbar sei, dass es keine andere Wahl gäbe, als endlich die Hisbollah zu entwaffnen. Meiner Kusine hat eine Rakete das Haus zerstört. Ihr ist nichts passiert, weil sie, wie 650.000 andere Israelis, im Süden bei Angehörigen Zuflucht gesucht hat.
Was kann mit diesem Krieg erreicht werden? Wie realistisch ist eine Zerstörung der Hisbollah?
Sie können eine Terrorbewegung nicht schlagen. Das schaffen die Amerikaner nicht mit der Al-Kaida, das schaffen die Israelis nicht mit der Hisbollah. Aber die Amerikaner haben die Al-Kaida aus großen Teilen Afghanistans vertrieben. Die Israelis können die Hisbollah aus dem Südlibanon vertreiben. Und sie können dafür sorgen, dass die Raketenstellungen und die Bunker so zerstört werden, dass halbwegs Ruhe einkehrt, und wenn diese nur fünf oder sechs Jahre anhält.
Ist eine Situation wie in Afghanistan oder im Irak erstrebenswert?
Die Antwort ist relativ simpel: Israel hat keine andere Wahl. Ob die Situation im Irak oder in Afghanistan erstrebenswert ist, weiß ich nicht. Die Frage, die sich in Israel stellt, lautet: Was kann der israelische Staat tun, um 1,3 Millionen Menschen im Norden Israels vor Raketenangriffen zu schützen? Nachdem UNO-Resolutionen und Appelle nichts gebracht haben, bleibt nur Gewalt.
Wieviel Gewalt kann durch das Vorhaben, die Hisbollah zu vertreiben, legitimiert werden?
Es gibt kein Maß für zulässige Gewalt. Auch die Diskussion über Angemessenheit ist scheinheilig. Es stellt sich nicht die Frage, ob Israel berechtigt wäre, vier Menschen zu entführen, wenn die Hisbollah vorher zwei entführt hat. Die Angemessenheit richtet sich laut Völkerrecht nach der Bedrohung. Und die Bedrohung, dass die Hisbollah und der Iran Israel zerstören wollen, ist gegeben, auch wenn es die Europäer nicht wahrhaben wollen. Man hat schon einmal versucht, alle Juden umzubringen. Israel wird nicht darauf warten, dass das gelingt.
Sind also Kollateralschäden für Sie ein notwendiges Übel?
Sie sind kein notwendiges Übel. Jeder Tote ist ein Toter zuviel, auf beiden Seiten. Israel hat die libanesische Regierung sehr oft aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die Hisbollah ihre Angriffe einstellt. Jetzt sitzt die Hisbollah in der Regierung und schießt über eine anerkannte Grenze. Das ist eine Kriegserklärung.
Was kann die libanesische Regierung konkret tun?
Die libanesische Regierung sollte endlich die UNO-Resolution 1559 erfüllen, die Hisbollah entwaffnen und jegliche Terrorattacken über die anerkannte Grenze verhindern. Und die internationale Gemeinschaft könnte endlich aufhören, zu diskutieren, und den Terrorismus, der aus dem Iran kommt, bekämpfen.
Da Sie an die internationale Gemeinschaft appellieren - können Sie verstehen, dass ein UNO-Quartier von den israelischen Streitkräften bombardiert wird?
Das ist nicht zu akzeptieren. Ich bin persönlich davon überzeugt, dass das ein schwerer Fehler war, aber keine Absicht hinter dieser Tragödie stand. Das ändert aber nichts daran, dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden müssen. Dasselbe gilt für Kana. Israel bedauert jedes zivile Opfer und bemüht sich, diese zu verhindern. Ich frage mich nur, warum niemand gegen die Tötung von 50 Zivilisten in Israel protestiert. Die Hisbollah feiert jedes Opfer und schießt ihre Raketen ausschließlich auf zivile Ziele.
Führt die Hisbollah einen Stellvertreterkrieg für den Iran?
Der Iran hat dafür gesorgt, dass die Hisbollah und die Hamas jetzt handeln, weil der Iran dadurch von den Verhandlungen über das Atomprogramm ablenken kann.
Sie sehen den Krieg nicht als Ablenkung vom Palästinenserproblem, sondern als Ablenkung des Iran vom Atomprogramm?
Die Auseinandersetzung mit der Hamas war voll im Gang - da braucht Israel nicht abzulenken. Und plötzlich kommt die Hisbollah hinzu. Ich bin überzeugt, dass die Iraner ablenken wollen.
Die Konflikte im Nahen Osten erwecken den Anschein, dass es sich um einen ewigen Kreis der Vergeltung handelt...
Das schaut aus europäischer Sicht so aus. Es geht nicht um Vergeltung. Man kann mit der Hamas nicht verhandeln. Wenn Israel das tut, dann entführen sie den nächsten Soldaten und den nächsten und wieder den nächsten.
Heißt das also, dass Gewalt die einzige Lösung ist?
Hier kämpfen zwei vollkommen verschiedene Kulturen und zwei vollkommen verschiedene Weltanschauungen gegeneinander. Für Israelis und Juden ist das Leben das höchste Gut - auf beiden Seiten. Für die Hamas ist der Selbstmord ein Weg ins Paradies.
Hat Israel alles getan, um einen Frieden im Nahen Osten herbeizuführen?
Nein. Israel hat viel getan. Es könnte sicher mehr tun. Aber es hat zum Teil nicht die Partner dazu. Es kann ja nicht Frieden mit sich selbst schließen!
Die IKG kritisiert die antiisraelische Grundhaltung in der Wahrnehmung des Nahost-Konflikts in den Medien, der Politik und der Bevölkerung. Wo ist die Grenze zwischen gerechtfertigter Kritik am Staat Israel und Antisemitismus? Gerechtfertigte Kritik ist zulässig und notwendig. Auch Israel ist nicht fehlerlos. Die Kritik wird dann zum Antisemitismus, wenn man doppelte Standards setzt.
Wer ist "man"?
Es gibt wieder so etwas wie eine Allianz der Antisemiten von Linksextremen, Rechtsextremen und anderen, wenn es gegen Israel und die Juden geht. Wenn viele Österreicher die furchtbaren Bilder im TV sehen und Israel kritisieren, weil hier eine mächtige Armee die schwachen Palästinenser oder Libanesen angreift, ist das vielleicht einseitig, aber nicht antisemitisch. Antisemiten sind jene, die wider besseres Wissen Israel der Kriegsverbrechen bezichtigen und nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Israel rufen, aber den 8. Mai als Tag der Besetzung begehen und Schwierigkeiten haben, ein paar zweisprachige Ortstafeln aufzustellen. Ich möchte sehen, was so mancher Sprücheklopfer sagen würde, wenn 2500 Raketen auf Graz geschossen worden wären.
Was verstehen Sie unter doppelten Standards?
Die ganze Welt schaut zu, wie in Darfur und im Kongo Menschen umgebracht werden, das regt keinen auf. Die UNO hat nichts anderes zu tun, als in jeder Sitzung, ganz gleich in welcher Teilorganisation, Israel zu verurteilen.
Sind also alle UNO-Resolutionen, mit denen Israel verurteilt wurde, ungerechtfertigt?
Das habe ich so nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass grundsätzlich alle Generalversammlungsbeschlüsse Israel verurteilen. Egal, zu welchem Thema, am Ende des Tages wird Israel verurteilt. Bei der UNO-Konferenz in Durban sollte über Menschenrechtsstandards debattiert werden, heraus kam der Versuch, eine Resolution zu verabschieden, dass Israel ein rassistisches Land sei. Das war Antisemitismus in Reinkultur.
Zurück zu Österreich und der Berichterstattung in den Medien. Ist diese erschöpfend?
Nicht in allem. Sie ist sehr oft unausgewogen. Im ORF zum Beispiel hat Herr Al-Gawhary drei Tage lang Hisbollah-Propaganda betrieben. Herrn Segenreich hat man drei Tage lang nicht gesendet. Erst nach Protesten wurde die Berichterstattung wieder ausgewogener.
Was sagen Sie zur Ankündigung von Andreas Mölzer, eine palästinensische Flagge vor seinem Wohnhaus zu hissen?
Mölzer mag hissen, welche Flagge er will. Der Übergang von Deutsch auf Palästinensisch bedarf keines weiteren Kommentars. Die Tragödie im Nahen Osten für den österreichischen Wahlkampf zu missbrauchen, ist geschmacklos.
Angesichts der Entstehungsge schichte des Staates Israel - kö n nen Sie die Ablehnung der Palästinenser gegenüber der israelischen Bevölkerung verstehen?
Ich antworte mit einer Gegenfrage: Haben die Juden genauso einen Hass auf den Jemen, den Irak, Syrien und Ägypten zu haben, weil man sie von dort 1948 weggejagt hat? Israel hat 750.000 Flüchtlinge aus den arabischen Ländern aufgenommen und integriert. Es gab 1947 eine Teilung Palästinas durch die UNO. Die Israelis haben diese Teilung anerkannt, die Palästinenser nicht. Seither leben die Palästinenser in Flüchtlingslagern, ohne dass irgendein arabischer Nachbar trotz des Ölreichtums auch nur einen Finger gerührt hätte.
Fürchtet die israelische Bevölkerung eine Bevölkerungsmehrheit der Palästinenser?
Nein. Die Bevölkerung fürchtet sich nicht, sie will das einfach nicht. Israel definiert sich als jüdischer Staat mit einer sehr großen arabischen Minderheit. Es gibt kein Land, wo es den Arabern so gut geht wie in Israel. Aber der jüdische Charakter des Staates darf nicht zerstört werden. Es gibt dutzende arabische Staaten in der Region, aber nur einen jüdischen.
Wie stehen Sie zu den Siedlungen in den besetzten Gebieten?
Ehud Olmert hat vor seiner Wahl versprochen, etwa 70.000 Siedler umzusiedeln und jene verstreuten Siedlungen abzubauen, die einem palästinensischen Staat im Weg stehen. Und warum, frage ich Sie, muss eigentlich ein palästinensischer Staat judenrein sein? Die Welt sagt, die israelischen Siedlungen seien illegal. Warum eigentlich? In Hebron haben immer Juden gelebt. Dort liegen unsere Urväter begraben, in einem der Heiligtümer des Judentums. 1929 hat der arabische Mob die ganze jüdische Bevölkerung Hebrons ermordet. In einer Zweistaatenlösung müssten Juden das Recht haben, in Palästina zu leben, so wie eine Million Araber in Israel lebt.
Verhindert die konsequente Nichtanerkennung eines palästinensischen Staates nicht jegliche Aussicht auf Frieden?
Seit 1993 wird über eine Zweistaatenlösung verhandelt. 1999 hätten die Palästinenser nur Ja sagen müssen. Sie haben die Gewalt vorgezogen und jetzt die Hamas gewählt. Weil Israel einem palästinensischen Staat neben Israel zustimmt, haben die Israelis ja den Gaza-Streifen zur Gänze geräumt. Israel wird höchstwahrscheinlich 90 Prozent von Judäa und Samaria verlassen. Es wird ein territorialer Ausgleich stattfinden, damit das, was bei Israel bleibt, anderweitig abgegolten wird. Und dann sollen die Palästinenser ihren Staat haben und dort machen was sie wollen.
Gibt es überhaupt Gemeinsamkeiten der arabischen und der israelischen Bevölkerung, durch die die geschichtlichen Ereignisse der letzten 70 Jahre überwunden werden können?
Juden und Araber haben im Mittelalter wunderbar zusammengelebt. Es gibt viel mehr Einigendes als Trennendes. Es geht um diesen territorialen Konflikt, aber mittlerweile tobt auch ein Kulturkampf zwischen der jüdisch-westlichen und der islamischen Welt.
Wenn Sie in die Zukunft schauen: Wie würde der Nahe Osten Ihren Wünschen nach in 20 Jahren aussehen?
Wenn es den Palästinensern irgendwann einmal gelingt, eine verantwortungsbewusste Führung zu wählen, dann werden sie blitzartig mit Israel Frieden schließen.
Glauben Sie daran?
Ich glaube, irgendwann muss der Zeitpunkt kommen, dass eine palästinensische Mutter sagt, es sei wichtiger, dass ihr Kind lebt und eine Zukunft hat, als dass es in den Himmel kommt und 72 Jungfrauen bekommt. Ich weiß nicht, ob das in fünf, zehn oder hundert Jahren sein wird.
Aber Sie haben Hoffnung?
Ohne Hoffnung könnten wir nicht leben. Ich habe nur nicht die Hoffnung, dass es bald geschieht. Vielleicht war es ein Fehler, sich aus dem Libanon und Gaza-Streifen zurückzuziehen. Vielleicht verstehen Hamas und Hisbollah nur die Sprache der Gewalt.
*Zur Person:
Ariel Muzicant , Jahrgang 1952, ist der erste Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), der nach dem Holocaust geboren wurde. Nach der Wende des Jahres 2000 war er einer der schärfsten Kritiker der damaligen schwarz-blauen Regierung. Und er war jahrelang einer der schärfsten Kritiker des 2001 geschlossenen Washingtoner Restitutionsabkommens zur Entschädigung für Opfer des NS-Vermögensraubs. Die Vorbehalte zog er erst zurück, als die Regierung der IKG im Vorjahr zusätzliche Gelder zusagte, um die Infrastruktur der knapp 8000 Mitglieder umfassenden Gemeinde erhalten zu können. Die IKG betreibt neben ihren Synagogen und Bethäusern auch Schulen, Kindergärten, ein Altersheim und ein psychosoziales Zentrum. Immer wieder für Schlagzeilen gut war auch Muzicants Auseinandersetzung mit der FPÖ und Jörg Haider. Innerhalb seiner Gemeinde, an deren Spitze er seit 1998 steht, hat er sich mit seinem scharfen Auftreten nicht nur Freunde gemacht. Bei seiner ersten Wiederwahl im Dezember 2002 konnte er mit seiner Liste Atid ("Zukunft") dennoch deutlich zulegen. Ariel Muzicant wurde 1952 in Haifa/Israel geboren und lebt seit 1956 in Wien. Hier schloss er ein Medizinstudium ab, übernahm aber bereits 1977 nach dem Tod seines Vaters dessen Immobilienfirma Columbus. Über sein derzeitiges Verhältnis zur Regierung Schüssel wollte sich Muzicant aktuell nicht äußern. Er habe den Auftrag seines Kultusvorstandes, über das für die Juden so zentrale Thema Israel und Nahost zu sprechen, wolle das aber nicht mit österreichischen Themen vermengen. Muzicant ist verheiratet und hat zwei Töchter.