Immer heftiger werden die Debatten um die soziale Treffsicherheit. Während die Regierung alle Sozialleistungen von Expertengruppen durchforsten lässt, sehen Opposition und Sozialwissenschafter den Sozialstaat gefährdet. Die Armutskonferenz fordert: "Wer von Treffsicherheit spricht, darf zur Armutsbekämfung nicht schweigen." Die Sozialexperten des Netzwerkes gegen Armut und soziale Ausgrenzung fürchten, dass unter dem Motto "Sozialleistungen für diejenigen, die es brauchen" die Sozialtransfers gekürzt werden, "ohne, dass die Ärmeren etwas davon haben und es sich eigentlich um einen perfekt inszenierten Sozialschmäh handelt, bei dem Wissenschafter instrumentalisiert werden". Sozialministerin Sickl will das "Geld dorthin lenken, wo es gebraucht wird".
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"Der von der Regierung geführte Diskurs über die Treffsicherheit von Sozialleistungen steuert auf einen radikalen Umbruch des Sozial- und Wohlfahrtsstaates zu," analyssiert der Ökonom Johannes Jäger, "unter dem Vorwand des Sparens wird das Sozialsystem komplett umgebaut." Dieses sei deshalb möglich, weil manche Sozialleistungen und deren mißbräuchliche Inanspruchnahme als eine Ursache für das Budgetdefizit herhalten müssen. Ein wesentlicher Grund für die Staatsverschuldung liegt, so Jäger, allerdings beim geringen Wirtschaftswachstum der 80er Jahre und im damals relativ hohen Zinsniveau. Auch wurden die Staatseinnahmen nicht angehoben. "Im Gegenteil, in den 90er Jahren kam es zu enormen Erleichterungen für Vermögende: Einführung des Stiftungsrechts und Abschaffung der Vermögensteuer," so Jäger im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", und damit wurde Österreich zum internationalen Schlußlich bei der Besteuerung von Vermögen und Gewinnen. Österreich ist das drittreichste Land Europas, seine Wirtschaft boomt. Und solange das Defizit unter dem Wirtschaftswachstum liegt, bestehe kein Anlass für Sorgen, "vor allem wenn der Staat auch den Reichen solidarische Beiträge zur Sicherung des Sozialsystems abverlangen würde."
Der Volkswirtschafter Gerhard Wohlfahrt ortet in der Sozialdiskussion drei Dogmen: Die Reduktion des Defizits auf Null, ein bloßes Sparen bei den Ausgaben und fehlende Konzepte für eine Verbesserung des Systems. Bislang, so Wohlfahrt, profitiert das untere Einkommensdrittel am meisten von den Sozialleistungen. Problematisch werde die Situation für jene, die von Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind und hier müßten Lücken im Netz geschlossen werden. "Größter Verlierer des angepeilten Sparkurses könnte der Mittelstandes werden", so Wohlfahrt.
Sickl will "Geld dorthin lenken, wo es gebraucht wird"
Für Sozialministerin Elisabeth Sick geht es bei der Verbesserung der Treffsicherheit darum, "Überversorgungen abzubauen und das Geld dorthin zu lenken, wo es gebraucht wird." Gleichzeitig betont sie, dass das Kinderbetreuungsgeld keine Sozial-, sondern eine Familienleistung sei. "Daher muss es jeder Familie in gleicher Höhe zukommen." Was die anderen Familientransfers aus dem FLAF betrifft, sei zwischen generell präventiven und individuell helfenden Maßnahmen zu unterscheiden. Die generell präventiven (Kinderbetreuungsgeld, Familienbeihilfe) sollen von vornherein verhindern, dass Familien wegen der höheren finanziellen Belastung durch Kinder in Armut geraten. Die individuell helfenden (Härteausgleich, Familienzuschüsse der Länder,...) dienen dazu, Notsituationen oder mangelnde Leistungsfähigkeit der Familien zu überbrücken". Bei Ersteren werde "in der Regel die soziale Staffelung auf der Finanzierungsseite genügen, bei Zweiteren werde in Zukunft in verstärktem Maß die soziale Staffelung auf der Verteilungsseite des Einkommens berücksichtigt werden müssen.
Kritik der Opposition
Der Grüne Sozialsprecher Karl Öllinger bezeichnet die Debatte zur Staffelung der Transferleistungen als Debatte von "Nullos" und meint: "Blinde haben ein besseres Farbempfinden als die FPÖ Ahnung vom Sozialsystem". Konkret bezog sich Öllinger auf die Äußerungen von FP-Klubobmann Peter Westenthaler, der den Bezug aller Sozialleistungen vom Familieneinkommen abhängig machen will. Öllinger sieht als "Transferleistungen" die Familienb9eihilfe und das Pflegegeld, der Rest seien "Versicherungsleistungen".
Kritik am Karenzgeld für alle kommt von SPÖ-Bundesfrauenvorsitzender Barbara Prammer: Die geplante "Finanzierung des Kinderbetreuungsgelds nur über den FLAF ist eine Senkung der Lohnnebenkosten ganz nach dem Geschmack der Männer, die ihre Frauen am liebsten ausschließlich ins traute Heim verbannen wollen". Denn damit sei für Frauen kein Anspruch auf Arbeitslosengeld nach der Karenzierung mehr gegeben.