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Armut muss halbiert werden

Von Werner Hörtner

Politik

In den Meldungen über das Reformpaket für die Vereinten Nationen ging beinahe unter, dass dieses Vorhaben nur einen Teil jenes Berichts darstellt, den der UN-Generalsekretär Kofi Annan am 21. März der Weltöffentlichkeit vorstellte. "In larger freedom" nennt sich das 62 Seiten umfassende Dokument, in Anlehnung an eine Formulierung aus der UN-Charta, in der von sozialem Fortschritt und besserem Lebensstandard "in größerer Freiheit" und für alle Menschen die Rede ist.


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Die Reform der Vereinten Nationen stellt nur ein Kapitel dieses Berichts dar - der Großteil ist der Erfüllung der so genannten Millenniums-Ziele, den globalen Menschenrechten und einem Leben ohne Furcht und in Frieden gewidmet.

Die alltägliche Katastrophe

Die Zahlen begleiten uns schon seit vielen Jahren, und sie verändern sich nicht wesentlich, verschlechtern sich sogar teilweise: eine Milliarde Menschen, die in extremer Armut und Unterernährung leben, 1,2 Milliarden Menschen, die keinen oder nur ungenügenden Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, drei Millionen Menschen, vor allem Kinder unter fünf Jahren, die jährlich an wasserbedingten Krankheiten sterben, fast drei Millionen Aids-Tote im Jahr ... Wir haben uns gewöhnt an diese Zahlen, die uns vielleicht ab und zu für eine Minute ein Gefühl des Bedauerns und der Machtlosigkeit einflößen.

Das letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts war geprägt von einer Reihe von Großkonferenzen der Vereinten Nationen, die die brennendsten aktuellen Themen der Menschheit behandelten: 1992 in Rio de Janeiro Umwelt und Entwicklung, 1994 Bevölkerung und Entwicklung in Kairo, ein Jahr später die Weltfrauenkonferenz in Peking und ein Weltgipfel für soziale Entwicklung in Kopenhagen, 1996 der Welternährungsgipfel in Rom usw. Auch wenn die dort beschlossenen Aktionsprogramme großteils nicht umgesetzt wurden, weil die Unterzeichnerstaaten ihre Verpflichtungen nicht einhielten, so signalisierten diese Konferenzen zumindest ein verstärktes globales Bewusstsein über den größten Skandal unserer Zeit: das hartnäckige Fortbestehen von Hunger und Unterentwicklung, dem täglich 24.000 Menschen zum Opfer fallen.

Die Millenniums-Erklärung

Im September des Jahres 2000 wurde bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen der Anbruch des neuen Jahrtausends gefeiert. Generalsekretär Kofi Annan hatte aber auch ein Dokument vorbereitet, in dem die Erfahrungen der Großkonferenzen des vergangenen Jahrzehnts zusammengefasst waren: die Millenniums-Erklärung. Darin wurde die Beseitigung von Hunger und Armut als vordringlichste Aufgabe der Menschheit formuliert und eine Liste von "Entwicklungs-Zielen" aufgestellt, die "Millennium Development Goals" (MDGs). Alle Staats- und Regierungschefs der anwesenden 182 Nationen verpflichteten sich auf die Einhaltung dieses Zielkatalogs, der z.B. die Halbierung der Anzahl der absolut Armen bis 2015 vorsieht, die Senkung der Kindersterblichkeit um zwei Drittel, die Verwirklichung der allgemeinen Primärschulbildung usw.

"Entwicklungspartnerschaft"

Mit diesen MDGs war erstmals auf internationaler Ebene eine Entwicklungsstrategie mit genauen Ziel- und Zeitvorgaben formuliert worden, zu deren Umsetzung sich die gesamte Staatengemeinschaft verpflichtet hatte.

Die ersten sieben der Ziele richten sich an die Entwicklungsländer selbst; sie sollen durch verbesserte Regierungsführung (good governance), Budgetumschichtungen, Förderung der ökologischen Nachhaltigkeit und der Geschlechtergleichheit die Basis für die Umsetzung der Entwicklungs-Ziele setzen. An die reichen Länder hingegen richtet sich Punkt 8 der MDGs: der "Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft". Durch weiteren Schuldenerlass, Technologietransfer und gesteigerte Entwicklungshilfeleistungen sollen die Länder der so genannten Dritten Welt in ihrem Kampf gegen Armut und Unterentwicklung unterstützt werden.

Appelle allein genügen nicht

Im vergangenen Jänner stellte Kofi Annan einen umfangreichen Aktionsplan zur Armutsbekämpfung und zur Umsetzung der MDGs vor. Unter Führung des berühmten US-Ökonomen Jeffrey Sachs, früher selbst Weltbank-Mitarbeiter, hatte ein Team von 265 Entwicklungsexperten drei Jahre lang diesen "Praktischen Plan zur Erreichung der Millennium-Entwicklungsziele" ausgearbeitet.

Jeffrey Sachs zeigt sich optimistisch, dass die im September 2000 von allen Regierungschefs der Welt unterzeichneten Ziele bis zum Jahr 2015 verwirklicht werden können - doch sei es dazu notwendig, die Anstrengungen massiv zu verstärken. "Die Experten, die an diesem gewaltigen Vorhaben beteiligt waren, haben eindeutig nachgewiesen, dass wir die Ziele noch erreichen können - wenn wir mit der Umsetzung des Plans sofort beginnen."

In seinem soeben veröffentlichten Bericht mahnt der UN-Generalsekretär die reichen Länder der Welt neuerlich, ihre Entwicklungshilfeleistungen stufenweise auf 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE), also der jährlichen Wirtschaftsleistung eines Landes, zu steigern. Zur Umsetzung der Entwicklungs-Ziele würden in einem durchschnittlichen Staat der Dritten Welt Investitionen von 75 US-Dollar pro Kopf genügen, rechnet Kofi Annan vor: ein geringer Betrag, der jedoch von den armen Ländern alleine nicht aufgebracht werden könne.

Der Paulus der Weltbank

Früher hat Jeffrey Sachs als Weltbank-Experte Entwicklungsländern Schocktherapien zur Sanierung ihrer Haushalte verschrieben, heute ist er einer der schärfsten Kritiker dieser Institution, die zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg Armut und Unterentwicklung hätte ausmerzen sollen.

Er vergleicht die Wirtschaftspolitik, die die reichen Länder im letzten Vierteljahrhundert den armen aufzwängten, mit der Medizin des 18. Jahrhunderts, "als die Ärzte ihre Patienten mit Blutegeln heilen wollten - und diese dabei oft starben".

Allein ein Blick auf die weltweiten Rüstungsausgaben zeigt, dass die Umsetzung der MDGs kein finanzielles Problem ist, sondern eines des politischen Willens. Die USA stecken heuer 500 Milliarden Dollar in ihr Verteidigungsbudget - für Entwicklungshilfe haben sie ganze 16 Milliarden übrig, und selbst die sind nur zu einem kleinen Teil tatsächlich Leistungen, die eine echte wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Empfängerländer fördern.

"Ich habe 20 Jahre benötigt, um zu verstehen, was eine

gute Entwicklungsökonomie sein sollte", sagt Jeffrey Sachs, "und ich lerne immer noch." Die von Weltbank und IWF viele Jahre lang geförderte Politik der "Strukturanpassung" in den Entwicklungsländern hat zur Genüge gezeigt, dass sie die Patienten eher tötet als heilt. Die von den beiden Institutionen gepushte - und oft als Bedingung für Kredite geforderte - Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen hat vielfach katastrophale Folgen für die Bevölkerung. Auch wenn die staatlichen Unternehmen oft schlecht funktionierten, korrupt und ineffizient waren - die Übernahme von Bereichen wie Wasser- oder Gesundheitsversorgung durch private, der Gewinnmaximierung verpflichtete Anbieter schließt breite Bevölkerungskreise in den armen Ländern von dieser Versorgung aus. Eine Entwicklung, die Armut und Krankheit verstärkt statt einbremst.

Schlusslicht Österreich

Auch Österreich hat sich im September 2000 verpflichtet, seinen Beitrag zur Erreichung der Millennium-Entwicklungsziele zu leisten. Dazu gehört u.a. die stufenweise Anhebung der Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent bis zum Jahr 2015.

Die Europäische Union hat vor fast drei Jahren in Barcelona beschlossen, dass alle - damaligen - Mitgliedsländer die Mittel der Entwicklungszusammenarbeit bis 2006 auf 0,33 Prozent des Nationaleinkommens steigern sollten. Doch die österreichischen Leistungen fielen weiterhin - zusammen mit Italien stellt Österreich das Schlusslicht in der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, dar.

Heuer wird Österreich jedoch 0,45 Prozent des BNE erreichen. Blickt man aber hinter die nüchterne Prozentzahl, versteht man, warum die "Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungszusammenarbeit" (AGEZ), ein Dachverband von Entwicklungs-NGOs und Hilfsorganisationen, von einer "Schwindelzahl" spricht. Darin ist nämlich die Entschuldung des Irak als Entwicklungshilfeleistung eingerechnet. Gemeint sind uneinbringliche Exportkredite, die in der Zeit der Diktatur Saddam Husseins an österreichische Privatfirmen verliehen wurden. Ohne diese Rechenweise würde die Steigerung der Entwicklungshilfe gegenüber dem Vorjahr ganze 3,5 Mio. Euro betragen.

Österreich hat bisher auch keinen verbindlichen Stufenplan zur Erhöhung der Entwicklungshilfe bis zum Jahr 2010 vorgelegt. Man könne sich nicht so lange im vorhinein budgetmäßig binden, heißt es aus dem Finanzministerium. Anderen EU-Ländern gelingt das.

Die ehemalige niederländische Entwicklungsministerin und jetztige Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für die Millenniums-Entwicklungsziele, Eveline Herfkens, kritisiert Österreich und Italien ausdrücklich wegen ihrer mangelhaften Leistungen auf diesen Gebieten und dem Fehlen einer langfristigen Budgetplanung.

Im September dieses Jahres werden sich die Staats- und Regierungschefs dieser Welt neuerlich in New York versammeln und über die Umsetzung der MDGs beraten. Mit 10 Prozent der jährlichen Rüstungsausgaben könnten diese Ziele erreicht werden - und das wäre sicherlich die effektivste Methode der Friedenssicherung und Terrorismusbekämpfung.

Am 13. April veranstaltet die "ARGE FIAN - Südwind" eine Aktion "MDGs Do It! - Armutszeugnis 2005", bei der die Versäumnisse der reichen Staaten bei der Armutsbekämpfung aufgezeigt werden sollen (1070 VII, Ecke Museumsquartier/Mariahilfer Straße, 17 Uhr)). Geboten werden Diskussionen, eine Straßen-Vernissage, eine Live-Performance und als Star-Gast Timna Brauer.