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Artistischer Existenzialismus

Von Andreas Wirthensohn

Reflexionen
Zu einer Ikone autofiktionalen Schreibens geworden: der norwegische Autor Karl Ove Knausgård
© ullstein bild / Martin Lengemann / WELT

"Der Morgenstern": Eine metaphysische Erkundung menschlichen Lebens und der passende Roman zur Zeit der Polykrisen.


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Es stand Schlimmes zu befürchten. Seit den sechs Bänden seines opus monstrum, das im Original den Titel "Min kamp 1-6" trägt, ist Karl Ove Knausgård "Kult". Wer die insgesamt mehr als 4.600 Seiten hinter sich gebracht hatte, wusste so ziemlich alles über die Lebenskämpfe des 1968 geborenen Norwegers (bis hin zur Geheimzahl seiner Kreditkarte). Und wer diesen detailverliebten Beschreibungen der ganz normalen Mühen des Alltags verfallen war, durfte sich das schöne Adjektiv "knausoman" ans Revers heften.

"Es ging nicht kürzer"

Was sollte nach diesem weltliterarischen Solitär noch kommen? Es kamen vier Bände über die Jahreszeiten, in denen Knausgård seiner jüngsten Tochter die Welt der kleinen Dinge erklärte (und in denen er schon bald wieder so ähnlich schrieb wie in der "Hexalogie"). Es kamen Essays, die vor allem dort am besten waren, wo Knausgård als erlebendes Ich im Mittelpunkt stand. Es kam ein hübsches, einfühlsames Buch über Edvard Munch. Und es kam 2020 - auf Deutsch - die reichlich verspätete Veröffentlichung seines schon 1998 erschienenen Debütromans "Aus der Welt", einer Art Suche nach der verlorenen Zeit mit "Lolita"-Elementen, die eigentlich das Potential zu einem veritablen Literaturskandal hatte, der aber seltsamerweise ausblieb.

© Luchterhand

Man kann das, was danach kam, als literarische Suchbewegungen betrachten, als tastende Intermezzi eines Schriftstellers, der zu einer Ikone autofiktionalen Schreibens geworden ist und nur zu genau weiß, dass jedes Weitermachen in dieser Richtung wie ein krampfhaftes, aber unproduktives Festhalten am Bewährten wirken würde. Und damit wie die Stagnation eines Literaten in seinen besten Jahren. Nun aber scheint Knausgård einen neuen Weg gefunden zu haben, und wie es sich bei diesem manisch Schreibenden gehört, sind die jetzt vorliegenden 900 Seiten lediglich der Auftakt zu etwas erneut Monströsem: Fünf Bände soll dieser Zyklus am Ende umfassen, auf Norwegisch ist immerhin schon ein zweiter Band erschienen.

"Es ging nicht kürzer", ließ der Autor jüngst die "Süddeutsche Zeitung" lapidar wissen, "und warum hätte das Buch auch kürzer werden sollen? In den Büchern, die ich schreibe, bewege ich mich langsam. Es gibt viel zu berichten, über alltägliche Dinge. Sie sind mir wichtig, auch wenn sie scheinbar nichts zum Fortgang der Ereignisse beitragen."

Und tatsächlich sind es gerade einmal zwei ungewöhnlich heiße Augusttage, die in "Der Morgenstern" geschildert werden - und zwar aus der wechselnden Perspektive von insgesamt neun Ich-Erzählern, Männern wie Frauen, die unterschiedlich ausführlich zu Wort kommen. Und ja, die Details sind Knausgård tatsächlich wieder sehr wichtig, auch wenn er dieses künstlerische Prinzip durchaus selbstironisch so kommentieren lässt: "Ich setzte mich und zündete mir eine Zigarette an, glücklicher, als ich es seit Jahren gewesen war. Ich hatte das dringende Bedürfnis, an diesem Glück festzuhalten. Aber dem stand einiges im Weg. Essen kochen, all die Mühe im Kleinen und Peniblen, wenn es das Große und Ungefähre war, wohin es einen zog. Und gemeinsam mit den Kindern zu essen, war auch nicht sonderlich verlockend. Nicht, dass ich das nicht schaffen würde, mit etwas Konzentration würden sie nichts merken, aber gerade diese Anstrengung, mich ins Kleine hineinzubegeben - konnte sie mir nicht ausnahmsweise einmal erspart bleiben?"

Ein Hauch von Endzeit

Diese Klage kommt aus dem Munde Arnes, seines Zeichens Literaturprofessor, Vater mehrerer Kinder und Ehemann einer psychisch höchst labilen Frau. Er ist mit der Familie auf Urlaub im Sommerhaus und bemerkt wie all die anderen Erzähler an diesen beiden Tagen verschiedene seltsame Veränderungen. Da ist allen voran der titelgebende unbekannte Stern am Himmel, "schön und unheimlich" zugleich, der aussieht, "als würde er den Himmel neu definieren".

Auch Arnes Nachbar am See, Egil, ehemals Dokumentarfilmer, der gerade an einem längeren Essay "Über den Tod und die Toten" schreibt, weiß nicht so recht, ob dieser Morgenstern hinauf zu Gott oder hinab ins Totenreich führt. "Schön, wie der Tod schön war" erscheint er auch einer anderen Protagonistin.

Doch damit nicht genug: Auch sonst geschehen allerlei mehr oder weniger mysteriöse Dinge. Straßen sind plötzlich mit Krebsen übersät, riesige Marienkäferschwärme tauchen auf, und auch andere Tiere verhalten sich seltsam. Die Theologin Kathrine begleitet einen Verstorbenen ohne Angehörige zur letzten Ruhe, der ihr ein paar Stunden zuvor noch am Flughafen begegnet ist. Und als die Krankenschwester Solveig bei der Organentnahme an einem hirntoten Patienten assistiert, schlägt der plötzlich wieder die Augen auf und lebt.

Ein Hauch von Endzeit liegt über diesen zwei Tagen, "ein Schatten von Verlust", und das Verstörendste daran ist, dass niemand so recht weiß, was das alles genau zu bedeuten hat. "Es war nicht, wie es sein sollte. Veränderung, wo alles unverändert bleiben sollte."

Diese "Mystery"-Elemente haben nicht allen Kritikern gefallen - Iris Radisch in der "Zeit" sprach gar von "zusammengeschaufeltem Mystery-Plunder" -, dabei sind sie letztlich sehr dezent gehalten und wirken wie unvermittelte, aber gar nicht so fantastische Einbrüche einer neuen, anderen Welt - vielleicht nur eine "Abfolge von Zufällen", vielleicht aber auch das "Ende der Welt", zumindest wie wir sie kannten. Im norwegischen Original hat das Buch genau 666 Seiten, und wer die Offenbarung des Johannes gelesen oder schon mal die Metal-Band Iron Maiden gehört hat, weiß, dass das die Teufelszahl ist. Trotzdem ist dieser Roman keine apokalyptische Dystopie, sondern eine spirituelle, metaphysische Erkundung menschlichen Lebens - zu dem der Tod zwingend dazugehört.

"Es war doch nicht undenkbar, dass etwas völlig Neues passierte? Etwas, das nie zuvor passiert war?", fragt sich die Krankenschwester Solveig angesichts des neuen Himmelskörpers. "Der Morgenstern" ist tatsächlich so etwas wie der Roman zur Zeit, oder genauer: zur Zeitenwende, zu unserer Welt der Polykrisen (Pandemie, Klimawandel, Krieg), die uns mit allem Möglichen konfrontiert, was wir uns bisher nicht vorstellen konnten.

Kein Thesenroman

Doch das Buch ist zum Glück weit entfernt von einem Thesenroman, sondern führt an neun Individuen detailreich vor Augen, wie eine solche vage bleibende Zeitenwende das Leben und Bewusstsein ganz normaler Menschen tangiert. Seine Eindringlichkeit gewinnt der Roman erneut aus der eingehenden Schilderung alltäglicher Verrichtungen, und diese Intensität zeugt einmal mehr von den ungeheuren empathischen Fähigkeiten Knausgårds. Zugegeben, Erzähler wie Arne oder Egil (die zumindest in diesem Band ausgiebiger zu Wort kommen als andere) dürften viel mit ihrem Schöpfer gemeinsam haben. Aber auch Frauenfiguren wie Solveig oder Kathrine sind dem angeblichen "Männerautor" bemerkenswert überzeugend gelungen.

Mit "Der Morgenstern" knüpft Knausgård interessanterweise an seinen zweiten Roman an, "Alles hat seine Zeit" (2004, deutsch 2007). Dort spielten unter anderem verschiedene Gestalten aus dem Alten Testament und Engel eine zentrale Rolle. Jetzt, am Beginn des neuen Romanzyklus, bringt der Autor das Paradoxon des Jenseitigen, des Metaphysischen so auf den Punkt: "Dass es Dinge jenseits unserer Reichweite gibt, die wir weder sehen noch wahrnehmen, ist dennoch lediglich eine Behauptung, die sich natürlich nicht belegen lässt, weil die Tatsache, dass etwas jenseits unserer Reichweite liegt, ja bedeutet, dass es nie, auf keine Weise, erreicht werden kann."

Das stimmt natürlich nicht ganz, denn in der Kunst - im Roman, aber auch im Begleitmaterial auf der Seite www.themorning-star.no, wo sich jede Menge Bilder und sehr interessante Spotify-Playlists zu jedem der Erzähler finden - lässt sich dieses Meta-Physische sehr wohl erreichen - zumindest annäherungsweise, vorläufig und ohne außerästhetischen Wahrheitsanspruch.

Schon Gottfried Benn beschwor die Kunst - im Anschluss an Nietzsche - als "letzte metaphysische Tätigkeit" des Menschen in der entzauberten Moderne. Wir dürfen begründet hoffen, dass auch Knausgårds Romanzyklus (in der wieder sagenhaft guten Übersetzung von Paul Berf) dereinst zu den großen Kunstwerken dieses artistischen Existenzialismus gehören wird.

Karl Ove Knausgård
Der Morgenstern
Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, München 2022, 892 Seiten, 28,80 Euro.