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Assads Prophezeiung

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

Der Mittlere Osten steht in Flammen. Ganz so, wie es der syrische Diktator vor vier Jahren vorausgesagt hat - eine Analyse.


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Bagdad. Bei allen Unterschieden haben Syrien und Irak derzeit eines gemeinsam: Sie beherbergen das Kalifat, den von der Terrormiliz Isis begründeten islamischen Gottesstaat, der sich trotz Rückschlägen weiterhin im Nordosten Syriens und Nordwesten Iraks ausdehnt. Auch zehn Monate nach dessen Ausrufung ist das Projekt längst nicht am Ende.

Für Syrien-Analysten begann alles in Deraa, der Grenzstadt zu Jordanien, als sich in den ersten Apriltagen 2011 eine Menschenmenge durch die schmalen Straßen der Altstadt schob. Am Anfang des Zuges wurde ein Holzsarg von Männern getragen. Ihr Ziel war der Friedhof unweit der Omari-Moschee. Schon über 100 Tote wurden so zu ihrer letzten Ruhestätte geleitet. Die Zahl der Trauernden wuchs von Mal zu Mal, und ihre Forderungen wurden von Mal zu Mal schärfer. Trauerzüge gerieten zu Protestdemonstrationen, die zumeist gewaltvoll endeten.

"Das Blut der Märtyrer ist nicht umsonst geflossen", sagte mir Reem damals am Weg zur Demonstration. "Jeder Tote überzeugt uns nur noch mehr, unsere Rechte einzufordern." Die Regierung müsse erkennen, dass sie die Protestbewegung nicht mit Waffengewalt zum Schweigen bringe. Doch diese Erkenntnis fehlt bis heute. Inzwischen sind über 200.000 Syrer dieser Gewalt zum Opfer gefallen.

Reem war von Anfang an dabei, als der Aufstand in Deraa vor vier Jahren begann. Wie viele andere der 75.000 Einwohner zählenden, landwirtschaftlich geprägten Stadt konnte die Hausfrau nicht zu Hause bleiben, als die Jungen auf die Straße gingen und mehr Rechte, Jobs und eine bessere Wasserversorgung einforderten. Natürlich seien sie angesteckt worden durch die Proteste in Tunesien, Ägypten und anderswo in der arabischen Welt. Der Erfolg der Nilbewohner, ihren seit fast 30 Jahren regierenden Pharao loszuwerden, habe auch die Syrer darin bestärkt, längst fällige Reformen anzumahnen. Schnell haben sich die Proteste auf das ganze Land ausgeweitet. In Homs, Banias, Jabla, Aleppo, Lattakia, Douma und auch in Damaskus gingen die Menschen auf die Straße und forderten mehr Freiheit und Bürgerrechte ein. Präsident Bashar al-Assad konterte mit Scharfschützen, Panzern, Boden-Luft-Raketen, Kampfjets, Chemiewaffen und Fassbomben.

Angelockt vom Staatszerfall kamen die Terroristengruppen

Die Revolution militarisierte und radikalisierte sich. Ausländische Akteure mischten sich ein - erst Iran, die libanesische Hisbollah und Russland auf Regimeseite, dann Katar, Saudi-Arabien und die Türkei auf Oppositionsseite. Angelockt vom Staatszerfall kamen ab 2012 Terrorgruppen ins Land. Heute spielt die Freie Syrische Armee, einst Hoffnungsträger für einen Wandel, kaum noch eine Rolle. IS und Al-Nusra-Front sind nun die Mächtigsten unter den Assad-Gegnern. Reem und ihre Familie flohen nach Jordanien, leben in einem Flüchtlingslager in Deraas Schwesterstadt Ramtha und sehen verzweifelt zu, wie ihr Land immer weiter zerfällt. Das hätten sie nicht gewollt, sagt die 43-jährige Syrerin reumütig. Doch Assad habe die Radikalität provoziert, die Wölfe angelockt. Er habe alle als Terroristen bezeichnet, auch sie, die nur friedlich demonstrierte.

Für Irak-Analysten dagegen begann das Desaster mit der US-Invasion im Frühjahr 2003. Hätten die USA nicht die Sicherheitskräfte aufgelöst und ein riesiges Vakuum geschaffen, wäre es nicht so weit gekommen, sagt Salam al-Abadi, Professor für Soziologie an der Bagdad Universität. "Der Irak hat eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der gesamten Region." Ohne die Fehler der US-Administration wäre nicht dem Iran die Tür geöffnet worden und auch Al-Kaida hätte kaum Fuß fassen können. Der irakische Widerstand hätte in den politischen Prozess integriert werden müssen. Stattdessen wurden ehemalige Offiziere der irakischen Armee, Führungskader unter Saddam Hussein und Baath-Parteimitglieder als Verbrecher behandelt, wurden verhaftet, getötet, außer Landes getrieben, bedroht.

Diejenigen, die übrig blieben, trieb es in die Arme der internationalen Terrororganisation. "Al-Kaida Plus" nennt Abadi den IS. Der Kern der Terrormiliz stamme aus jener Zeit, als der Bürgerkrieg in Bagdad tobte - 2006/07 und 2008. Der Soziologe sieht die Motivation der IS-Kämpfer daher auch nicht nur ideologisch. "Ideologie alleine reicht nicht." Vielmehr habe man es hier mit einer Radikalität zu tun, die mit den Jahren gewachsen sei. Ohne gesellschaftlichen Rückhalt könnte das Projekt "Islamischer Staat" nicht verwirklicht werden.

Erst kämpften Syrer gegen USA im Irak, dann Iraker in Syrien

Anfang 2012 erklärte die schon damals existierende Organisation im Internet: "Viele Syrer haben Seite an Seite mit dem Islamischen Staat des Irak gekämpft, und es sind gute Neuigkeiten, dass irakische Kämpfer angekommen sind, um mit ihren Brüdern in Syrien zu kämpfen." Die Gruppe empfahl den syrischen Rebellen, dieselben improvisierten Sprengsätze am Straßenrand zu verwenden, die sich im Irak-Krieg als äußerst tödlich erwiesen haben. Zuerst kämpften syrische Sunniten im Irak gegen die US-Besatzer und die mit ihnen verbundene schiitisch dominierte Regierung. Nun revanchierten sich die Glaubensbrüder im Kampf gegen Assad. Der Machtkampf auf dem Rücken der Religion setzt sich auch in diesem Fall über die Grenzen hinweg fort.

Rabia an der syrisch-irakischen Grenze ist eine Zumutung. Berge von Müll, heruntergekommene Häuser, rostige Autos und Eisenbahnwaggons, die Straßen ohne Asphalt. An den Straßenrändern rinnen Abwässer, die in der Ortsmitte zu einem See zusammenlaufen. Hier spielt sich seit Jahren ab, was sich zu großer Politik in der Region ausgewachsen hat. In den vergangenen Monaten ging die Kontrolle über den Grenzübergang in der irakischen Provinz Nineve beständig hin und her. Mal kontrollierte IS, mal die irakische Armee, jetzt die kurdischen Peschmerga.

Doch wichtiger als der Grenzübergang selbst sind die Felder und Wiesen links und rechts - die sogenannte grüne Grenze. Schon immer wurde hier geschmuggelt: Zigaretten, Alkohol, Luxusgüter, Technologie. Alles, was im Irak wegen des Embargos in den 1990er Jahren nicht zu haben war, wurde hier verschoben. Auch Menschen gingen hin und her. Die Stammesgesellschaften Syriens und Iraks haben das von Großbritannien und Frankreich 1916 geschlossene Sykes-Picot-Abkommen mit den willkürlich gezogenen Grenzen eigentlich nie akzeptiert. Mitglieder einer der größten Stämme im Irak - Schammar - leben auch in Syrien und Jordanien. Handel und Wandel über die Grenzen hinweg blieb Tradition. Als die Zentralregierungen in Bagdad und Damaskus immer schwächer wurden, verstärkte sich das Treiben an den Nahtstellen der beiden Länder.

Iraks drittgrößte Stadt Mossul, 80 Kilometer von Rabia entfernt, entwickelte sich zum Waffenumschlagsplatz. Als die US-Soldaten Ende 2011 aus dem Irak abzogen, wurden in Rabia nicht mehr nur Zigaretten und Alkohol geschmuggelt, sondern Kalaschnikows, Panzerabwehrraketen, Sturmgewehre, Molotowcocktails und jede Menge Sprengstoff.

Mit Dollars aus Saudi-Arabien und Katar deckten sich sunnitische Kämpfer mit Militärgerät ein, die Schiiten bekamen Rial aus Teheran. Selbst in der mehrheitlich von Sunniten bewohnten Provinz Anbar fand man iranisches Geld bei toten Kämpfern. Ein Stellvertreterkrieg zwischen Iran und Saudi-Arabien um die Vormachtstellung in der Region war längst entbrannt, auch wenn er während der Anwesenheit der Amerikaner im Irak nicht voll zum Ausbruch kam. Hinter vorgehaltener Hand bestätigen indes US-Militärs, dass von Anfang an auch mit saudischem Geld Waffen gekauft wurden, die dann Amerikaner töteten. Offen zugegeben wurde dies nicht. Die Saudis gelten als Verbündete Washingtons und des Westens.