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Astronomisches Wunderkind

Von Christian Pinter

Wissen
Zwölf Sonnen- und Mondfinsternisse aus Regiomontans Kalendarium aus dem Jahre 1476, darunter auch jene von 1504 (linkes Blatt, rechts unten).
© © Pinter

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Wenn der Mond am späten Nachmittag des 10. Dezember 2011 über den Wiener Horizont klettert, erleben wir den Ausklang einer Mondfinsternis mit: Etwa gegen 16.10 Uhr macht man den Erdbegleiter sehr tief im Nordosten aus, zunächst als schmale Lichtsichel. Er befreit sich langsam aus dem Erdschatten und reift bis 17.18 zur vertrauten Vollmondscheibe heran.

Johannes Müller hätte dieses Schauspiel sicher enthusiastisch mitverfolgt. Er verließ Wien vor genau 550 Jahren, um einer der wichtigsten Gelehrten des 15. Jahrhunderts zu werden.

Johannes Müller wird am 6. Juni 1436 im fränkischen Königsberg geboren, vermutlich als Spross einer wohlhabenden Müllersfamilie. Rasch entpuppt er sich als Wunderkind. Schon mit elf studiert er an der Universität Leipzig, nennt sich latinisiert "Molitoris" (lateinisch für: Müller) oder "Johannes de Regio Monte", also "Johannes aus Königsberg". Der Reformator Philipp Melanchthon wird später rückblickend vom großen "Regiomontan" sprechen.

Mathematisches Talent

Johannes verblüfft die Leipziger Professoren mit seiner mathematischen Begabung. Auf der Suche nach versierten Lehrmeistern übersiedelt er im Februar 1450 nach Wien, wo Georg von Peuerbach unterrichtet. Der renommierte Oberösterreicher macht den fränkischen Studenten mit der Wiener Instrumentenbaukunst vertraut.

Am 3. September 1457 verfolgen die beiden Gelehrten eine Mondfinsternis mit. Sie wissen: Alle Betrachter, wo immer sie auch weilen mögen, sehen deren Phasen gleichzeitig. In Wien endet die Finsternis knapp vor Mitternacht; für weiter im Westen weilende Betrachter ist es dann aber erst später Abend. Im fernen Osten graut hingegen schon bald der Morgen. Finsternisse erlauben es daher, die jeweilige geografische Länge abzustecken; ein Glücksfall für Astronomen und Kartografen.

Seit langem schon vermessen die beiden Männer den Lauf der Wandelgestirne. Das ist keineswegs selbstverständlich. Allzu lange hat man die Wahrheit fast ausschließlich in Büchern gesucht. Aber auch die beiden Humanisten blättern ganz begeistert in den Schriften alter Meister. Häufig stoßen sie dabei auf Fehler, die sich beim mehrfachen handschriftlichen Kopieren oder beim Übersetzen eingeschlichen haben. Bei der Fahndung nach dem antiken Wissensschatz wollen die Gelehrten daher möglichst zu den Originalen vordringen.

Flüchtlinge aus dem untergegangenen Byzantinischen Reich bringen alte Handschriften mit. 1453 ist Konstantinopel gefallen. Zuvor hat man eine bisher unbekannte griechische Abschrift der Mathematike Syntaxis entdeckt und nach Rom gebracht: In diesem Lehrbuch aus dem 2. Jh. n. Chr. hielt Claudius Ptolemäus den Wissensstand der antiken Astronomie fest. Die Araber nannten es Almagest. Auch das Weltbild des 15. Jh. fußt noch darauf: Alles kreist tagtäglich um die vermeintlich im Zentrum des Kosmos ruhende Erde. Doch von diesem grundlegenden Werk des Ptolemäus existieren nur unzureichende Übersetzungen. Daher ersucht Kardinal Bessarion den Astronomen Peuerbach um einen fachgerechten Auszug.

Der Oberösterreicher stimmt zu, stirbt aber schon 1461. Magister Johannes Müller will den Auftrag vollenden. Deshalb verlässt er Wien im Herbst 1461, nach mehr als elfjährigem Aufenthalt. Nirgendwo wird er noch so lange verweilen können. In Rom trifft er herausragende Humanisten und kopiert Handschriften in der reichen Privatbibliothek des Kardinals. Er stellt den Auszug aus dem ptolemäischen Almagest fertig und widmet sich dann der Berechnung von Dreiecken - auf dem ebenen Zeichenblatt ebenso wie an der Himmelskugel. In Ungarn erweitert er die berühmte Bibliothek des Königs Matthias Corvinus, die über 5000 Werke umfassen wird. Nach Aufenthalten in Ofen (ungarisch: Buda), Gran (Esztergom) und Pressburg zieht es ihn aber wieder in seine fränkische Heimat.

"Zentrum Europas"

Dort fällt die Wahl auf das an Privilegien reiche Nürnberg, das für Müller "gleichsam das Zen- trum Europas" bildet. Die "Weltläufigkeit" seiner vielen Kaufleute verspricht leichten schriftlichen Gedankenaustausch mit Gelehrten anderer Metropolen. Nürnbergs mächtige, alles überragende Burg erinnert an jene Zeit, als die Kaiser noch von Ort zu Ort zogen und gleichsam "vom Sattel aus" regierten. Selbst die Reichskleinodien werden hier aufbewahrt; "für alle Zeiten", wie verfügt ist. Später landen sie dennoch in der Wiener Schatzkammer.

Wie Johann Gabriel Doppelmayr 1730 rückblickend festhält, macht sich Müller in Nürnberg "wegen seiner besonderen Gelehrsamkeit gar bald sehr beliebt". Der Patrizier Bernhard Walther, ein "Mann von großen Mitteln", ist ebenfalls ein Freund der Sterne. Er wohnt am Hauptmarkt, wo auch Müller Quartier bezieht. Hier ragt damals bereits der Schöne Brunnen auf: Er sieht aus, als wolle er eine Kirchturmspitze imitieren. Ein Teil seiner 40 prächtig bemalten Figuren symbolisiert die Sieben Freien Künste, deren Studium Johannes Müller in Wien abgeschlossen hat. Die Figur des Ptolemäus steht etwa für die Himmelskunde, jene des Euklid für die Geometrie.

Müllers Beobachtungsreigen in Nürnberg beginnt mit der Mondfinsternis des 3. Juni 1471. Dann hält er die Positionen der anderen Wandelgestirne fest. Wieder zeigt sich: Die zweihundert Jahre alten Alfonsinischen Tafeln spiegeln deren Lauf nur bedingt wider. Der Franke will daher um eine Verbesserung der Astronomie kämpfen.

Als "Waffen" sollen ihm die alten Visiergeräte des Hipparch und des Ptolemäus dienen. Er fertigt sie in der eigenen Werkstatt aus Holz und Messing an. Da er sie teils auch weiterentwickelt, befruchtet er den Instrumentenbau nachhaltig.

Müller ist so geschickt, dass man ihm sogar die Konstruktion einer eisernen Fliege und eines hölzernen Adlers - beide flugfähig - andichtet. Nürnbergs Handwerker gelten überhaupt als ausgesprochene Tüftler. Aus ihrem großen Kreis wird später auch ein Peter Henlein hervorgehen, der um 1510 die Taschenuhr realisiert. Johannes Müller bemüht noch die Sonne als Zeitgeber. Wie einst Peuerbach in Wien, baut und verbessert auch er tragbare Sonnenuhren. Nürnberger Zeitmesser aus Elfenbein, Birn- oder Buchsbaumholz verkaufen sich ausgezeichnet.

Freie Reichsstadt

Die freie Reichsstadt ist einer der wenigen Orte, wo man bereits die junge Kunst des Buchdrucks pflegt. Setzer gibt es hier genug, doch niemand versteht sich auf den schwierigen Druck astronomischer und mathematischer Werke. Also wird Müller selbst zu einem der ersten Verleger wissenschaftlicher Bücher. Mit Walthers Hilfe gründet er eine Druckerei in der Vorderen Kartäusergasse. Der zurückgezogen lebende Magister geht ganz in seiner Arbeit auf. 1472 gibt er die "Neue Planetentheorie" seines einstigen Lehrers Peuerbach heraus; das Lehrbuch wird es zu insgesamt 56 Auflagen bringen. Von den Dutzenden weiteren, stolz angekündigten Titeln erscheint leider nur ein Bruchteil.

1474 gibt Johannes aber noch die dicken Ephemeriden heraus; sie listen die Stellung der Wandelgestirne für die Jahre bis 1506 im Voraus auf. Auch Seeleute greifen darauf zurück. Dann verfasst er einen lateinischen und einen deutschen Kalender. Beide gelten bis 1531 - und werden so bekannt, dass später auch Kalender anderer Autoren den Namen Regiomontans im Titel tragen. Ähnlich wird es übrigens etlichen Taschenuhren ergehen, die, der bloßen Verkaufsförderung wegen, mit "Henlein" signiert werden.

Müller zeigt auf, wie oft das Osterfest bereits am falschen Sonntag gefeiert wird. Der nicht perfekten Schaltregel wegen klaffen wahrer und kalendarischer Frühlingsbeginn nämlich schon mehr als eine Woche auseinander. Um über eine Kalenderreform nachzudenken, wird Müller von Papst Sixtus IV. nach Rom gerufen. Im darauffolgenden Sommer grassiert dort eine Seuche: Der Papst verlässt die heilige Stadt, doch Johannes Müller stirbt in den ersten Julitagen des Jahres 1476.

Der Nachfolger

Bernhard Walther nimmt die Nachricht vom Tod seines 40-jährigen Freundes erschüttert auf. Die Arbeiten in der Nürnberger Druckerei werden eingestellt. Hingegen führt Walther die Himmelsbeobachtungen ganz im Sinne Müllers fort - "mit gleichem Eifer und unermüdetem Fleiß", wie Doppelmayr betont. Die vielen hundert Messungen Walthers bestechen mit ihrer bis dahin unerreichten Genauigkeit. 1501 erwirbt er ein 80 Jahre altes Fachwerkhaus am Tiergärtnertor und richtet eine Sternwarte an dessen Südfassade ein.

Damals studiert Nikolaus Kopernikus gerade in Italien. Die Unstimmigkeiten und Mängel der alten ptolemäischen Astronomie, von Peuerbach und Johannes Müller mehrfach aufgezeigt, haben ihm wohl längst zu denken gegeben; vielleicht säten sie sogar bei ihm die ersten Zweifel am erdzentrierten Weltbild. Kopernikus verwendet Walthers Positionsmessungen am Planeten Merkur jedenfalls später in seinem epochalen Hauptwerk. Es wird in Nürnberg erscheinen, dessen Buchdruckkunst so entscheidend von Müllers Genie profitiert hat.

Die Mondfinsternis vom 1. März 1504 erlebt Bernhard Walther noch mit. Genau gleichzeitig blickt Christoph Kolumbus, seit acht Monaten auf Jamaika festsitzend, zum Mond. Mit Hilfe des Himmelsschauspiels und Müllers Ephemeriden will der Gestrandete die geografische Länge seines Standorts bestimmen. Kolumbus verrechnet sich und verharrt auch deshalb im Irrglauben, Asien erreicht zu haben. Kurz danach stirbt Walther. 1509 zieht ein Künstler in Walthers Haus am Stadttor ein, der auch etliche Bücher Müllers erwirbt: Albrecht Dürer.

Christian Pinter, geboren 1959 in Wien, schreibt seit 1991 astro-nomische Fachartikel für die "Wiener Zeitung". Im Internet unter: www.himmelszelt.at