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Atatürks treue Erben: Die Macht der Militärs am Bosporus ist ungebrochen

Von Michael Schmölzer

Analysen

Gewalttätige Demonstrationen, ein angedrohter Militärputsch, schließlich die Anrufung des Verfassungsgerichtes - dass in der Türkei ein erbitterter Streit darüber ausgebrochen ist, wer neuer Staatspräsident wird, verwundert aus einem Grund nicht: Anders als in Österreich verfügt der türkische Präsident nämlich über erhebliche reale Macht. Er ernennt die höchsten Staatsbeamten - oder verhindert sie. Und er bestimmt, wer Höchstrichter wird - und wer nicht.


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Der bisherige Präsident, Ahmed Necdet Sezer, ein klarer Verfechter des säkularen Systems, hat auf diese Art und Weise hunderte Anhänger der regierenden gemäßigten islamistischen Partei von den Spitzenjobs in der Verwaltung ferngehalten. Mit Abdullah Gül an der Spitze des Staates wäre einer Islamisierung der Staatsorgane Tür und Tor geöffnet, fürchten die Anhänger der laizistischen Opposition.

Dass die Verfassungsrichter die Präsidentschaftswahl für ungültig erklärt haben, kann als Resultat von Sezers personalpolitischem Einfluss im Justizbereich gewertet werden. Die Mehrheit der Richter hat ein Naheverhältnis zur oppositionellen und säkularen sozialistischen CHP.

So wird das zweifelhafte Urteil der Top-Juristen verständlicher. Diese haben entschieden, dass bei der Wahl des Präsidenten zwei Drittel der Abgeordneten anwesend sein müssen - was nicht der Fall war. Eine derartige Regelung sieht die Verfassung eigentlich nicht vor; in Artikel 102 ist vielmehr festgehalten, dass in der ersten und zweiten Wahlrunde der Präsident mit Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt werden muss, im dritten Wahlgang reicht eine einfache Mehrheit aus.

Die Generäle walten

Möglicherweise hat das Urteil der Höchstrichter aber Schlimmeres verhindert, einen Militärputsch nämlich. Die Armee hat in der Geschichte der modernen Türkei wiederholt interveniert, zuletzt erzwang sie 1997 den Rücktritt Erbakans, der mit Erdogan und Gül die gleiche politische Heimat teilt. Vor wenigen Tagen warnte die Armee offen vor einer Islamisierung des Landes und drohte indirekt mit einem Putsch.

Bemerkenswert ist hier der offensichtlich ungebrochene politische Einfluss der türkischen Streifkräfte. Diese sehen sich als Hüter des Erbes Kemal Atatürks, selbst General und Gründer der modernen, westlich orientierten Türkei.

Der EU war die politische Macht der türkischen Armee immer ein Dorn im Auge - das sei "undemokratisch" hieß es in Brüssel. Vor der Aufnahme von Beitrittsgesprächen müsse Ankara den Einfluss der Militärs zurückschrauben, wurde gefordert. Die Regierung unter Tayyip Recep Erdogan machte sich daran, gegen die Offiziere im Nationalen Sicherheitsrat vorzugehen. Ein Machtkampf entbrannte, der - wie sich jetzt erweist - von den türkischen Militärs zumindest nicht verloren wurde. Sollte Erdogans AKP die kommenden Parlamentswahlen erneut gewinnen, ist eine weitere Verschärfung dieses Streits gewiss. Seite 6