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"Atmosphäre der absoluten Angst"

Von WZ-Korrespondent Wolfgang Tucek

Europaarchiv

Alexander Milinkewitsch im WZ-Interview. | Wahlkampf ohne Zugang zu Medien. | "Wiener Zeitung": Der russische Präsident Wladimir Putin sagt, dass am 19. März eine freie Präsidentschaftswahl in Weißrussland möglich ist. Teilen Sie diese Ansicht? | Alexander Milinkewitsch: Das trifft gegenwärtig nicht zu. Wir haben als Opposition seit zwölf Jahren keine Möglichkeit, im Fernsehen oder Radio aufzutreten. Kein Vertreter der Opposition wurde in die Wahlkommission aufgenommen. Wir wären Präsident Putin mehr als dankbar, wenn er der Demokratie helfen würde, in Weißrussland Fuß zu fassen.


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Wie funktioniert Ihr Wahlkampf - ohne Zugang zu Medien?

Ich reise viel und versuche jeden Tag mindestens zwei mittelgroße Städte zu besuchen. Ich spreche mit den Leuten auf den Straßen, auf Marktplätzen oder vor Universitäten. Denn hineingehen dürfen wir nicht. Wir machen Transparente und Flugblätter. Und ich muss sagen, dass wir beträchtlichen Erfolg haben. Meine Zustimmungsquote ist von null Prozent, als ich zum Kandidaten gewählt wurde, auf 24 Prozent gestiegen. In Minsk selbst liege ich vor Präsident Alexander Lukaschenko. Daraus schließe ich, dass die Menschen einen Wechsel wollen.

Wie stark werden Sie und Ihre Mitarbeiter von der Regierung unter Druck gesetzt?

Es herrscht eine Atmosphäre der absoluten Angst. Die Menschen sind von ihren Arbeitsplätzen abhängig und daher von der Regierung. Es wurden sehr kurzfristige Arbeitsverträge eingeführt. Die Verträge loyaler Bürger werden verlängert, die verdächtiger Bürger laufen einfach aus. Tausende Menschen wurden wegen ihrer Tätigkeit für die Opposition entlassen. Für sie ist es unmöglich, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Darüber hinaus werden Menschen gekidnappt und verschwinden. Wir glauben, die meisten von ihnen sind tot. Das betrifft auch Journalisten. Wir haben viele politische Gefangene. Die Regierung hat NGOs und politische Parteien einfach aufgelöst. Man kann von einer sehr umfassenden Unterdrückung sprechen.

Aus welchem Grund stehen die Menschen dann noch hinter Lukaschenko?

Das sind vor allem die ältere Generation und weniger gut ausgebildete Leute. Sie sind die Situation gewohnt, in der die Regierung alles erledigt. Sie sind glücklich, dass sie ihr Gehalt bekommen. Es mag bescheiden sein, aber es kommt pünktlich. Sie sind zufrieden mit Brot und Butter jeden Tag und einmal in der Woche einem Stück Wurst. Für sie bedeutet Freiheit nicht wirklich etwas.

Mit welchen Argumenten versuchen Sie, die weißrussischen Bürger zu gewinnen?

In der weißrussischen Gesellschaft gibt es nur schwarz und weiß. Es gab keine Chance für die Entwicklung eines pluralistischen politischen Lebens. Die Bevölkerung ist in zwei Gruppen gespalten. Die eine will den Status Quo erhalten, die andere will den Wechsel.

Könnte es eine Art "Orange Revolution" geben, wenn die Wahlen zugunsten von Lukaschenko ausgehen?

Eine Revolution in dem Sinne, dass die Leute auf die Straße gehen, ist möglich. Aber die Situation ist schwer mit der Ukraine zu vergleichen. Dort hat es bereits eine demokratische Opposition im Parlament gegeben, einen unabhängigen Fernsehsender und viele unabhängige Zeitungen. Das ist in Weißrussland nicht der Fall. Meiner Meinung nach ist die Situation eher mit Polen vor der Solidarnosc vergleichbar.

Können die Wahlbeobachter der OSZE die Wahl unter diesen Umständen überhaupt beurteilen?

Je mehr Wahlbeobachter nach Weißrussland kommen, desto besser ist es. Sie werden aber auf enge Grenzen stoßen. So kommen sie nicht sehr nahe an die Wahlkommission heran und dürfen auch nicht bei der Stimmenauszählung zuschauen. Aber ihre Anwesenheit wird die Behörden von Übergriffen gegen die Bevölkerung abhalten.

Falls die Wahl internationalen Standards nicht entspricht, hat Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner weitere Sanktionen nicht ausgeschlossen.

Wenn die EU wirtschaftliche Sanktionen verhängt, leiden die einfachen Leute am meisten darunter. Ich unterstütze aber Sanktionen wie Visa-Beschränkungen für bestimmte Personen, die das Gesetz in Weißrussland brechen und gegen Menschenrechte verstoßen.

Glauben sie, dass Sie die Wahl gewinnen können?

Wir sind absolut sicher, gewinnen zu können, wenn die Wahl fair wäre. Aber ich kann mich an keinen Fall in jüngster Vergangenheit erinnern, bei dem das diktatorische Regime Wahlen verloren hätte.

Wie würde Putin auf eine demokratische Wende reagieren?

Putin wäre nicht glücklich, wenn die Menschen in Weißrussland auf die Straße gehen. Lukaschenko hat in Russland nämlich über die letzten zehn Jahre eine Art Mythos erschaffen: Wenn er die Macht verliert, übernehmen Nationalisten oder Faschisten in Weißrussland die Macht und brechen jeden Kontakt zu Russland ab. Aber das ist nicht wahr.

Welche Botschaft haben Sie für Putin, damit er seine Ansicht ändert?

Innerhalb der weißrussischen Opposition gibt es keine anti-russischen Politiker. Ein solcher kann in Weißrussland keine Wahlen gewinnen. Wenn wir gewinnen würden, wären die Beziehungen zu Russland sogar besser. Wir sind bereit, die russischen Interessen zu berücksichtigen, solange sie nicht gegen die weißrussischen gehen.