Mit ihrer derzeitigen Atompolitik ist die USA nahe daran, jahrzehntelange Tabus in Sachen Nuklearwaffen zu brechen. Einige in der Regierung sehen das als gute Nachricht. Diese so genannten "nuclear hawks" ("Atom-Falken"), also Verfechter von Kernwaffen, sind es auch, die zur Änderung der US-Politik in dieser Frage beigetragen haben.
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Bis Juni 2003 war Keith Payne im Verteidigungsstab von George W. Bush. Er war die zivile Schlüsselfigur des Pentagon in Fragen des Erhalts, der Entwicklung und der Nutzung von Nuklearwaffen. Er glaubt an die Wirkungskraft von Nuklearwaffen und atomarer Kriegsführung.
"Der Sieg ist möglich", hieß ein Artikel, den Payne im Sommer vor Ronald Reagan's Wahl zum Präsidenten mitverfasste. Darin hielten die Autoren fest, dass Amerika "nie einen nuklearen Militärschlag führen sollte, wenn es wahrscheinlich ist, dass sich unter den Opfern 100 Millionen oder mehr US-Bürger befinden". Gleichzeitig wurde festgehalten, dass die Zahl der US-Opfer mit einem guten Offensivplan, der eng mit nationalen Verteidigungsmaßnahmen verknüpft ist, auf etwa 20 Millionen gesenkt werden kann.
In seinem Artikel kritisierte Payne den US-Verteidigungsstab, weil dieser "einen strategischen Nuklearkrieg nicht als Krieg sondern als Holocaust" definierte. Paynes Einstellung scheint in der Bush-Regierung auf Widerhall gestoßen zu sein.
Während die Debatte über Nuklearwaffen läuft und sich beide Parteien im Kongress den meisten Vorschlägen der US-Regierung in dieser Sache entgegenstellen, wird Payne von vielen als derjenige angesehen, der es geschafft hat, die Entwicklung und den Einsatz von Nuklearwaffen zu einem Teil der Politik der US-Regierung zu machen. Das beweist auch der Umstand, dass ein von ihm in seiner Zeit als Präsident des konservativen National Institute for Public Policy (NIPP) verfasster Bericht größtenteils in einem Regierungspapier über die offizielle Haltung zu Nuklearwaffen, "Nuclear Posture Review" (NPR), wiederzufinden ist.
Der US-Nuklearwaffen- und Politikexperte Joseph Cirincione, Abteilungsleiter für die Nicht-Verbreitung von Kernwaffen bei der Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden, beschreibt im Interview mit der "Wiener Zeitung" den derzeitigen US-Trend zu Nuklearwaffen als "ein ideologische Angelegenheit, die ein wichtiger Teil der Agenda für führende Regierungsbeamte geworden ist".
Eine Gruppe von Ideologen
Ein kleine Gruppe von Ideologen, "gleichgesinnten Personen", meistens aus konservativen Denkfabriken, wie dem "Projekt für ein Neues Amerika", die strategische Positionen in der Bundespolitik inne haben, sind es, die Wechsel in der US-Politik herbeiführen. So etwa im Irak-Krieg oder auch, wie Cirincione sagt, bei den Nuklearwaffen. "Es gibt Dutzende um Dutzende Nuklearwaffen-Wissenschafter, die es für verrückt halten, dass wir neue Waffen und bessere Nuklearwaffen brauchen . . ."
Neue Waffen gesucht
Im Regierungspapier zu Nuklearwaffen (NPR) werden diese als ein Bestandteil des verfügbaren Waffenarsenals gesehen. Ein Triumph für diejenigen Atom-Verfechter, die Nuklearwaffen immer nur als eines von vielen militärischen Geräten gesehen haben.
In Übereinstimmung mit dieser Einstellung ist eine neue Generation von Nuklearwaffen gefragt, solche für einen speziellen Einsatz und sogenannte "Mini-Atomwaffen". Sie haben eine Sprengkraft von weniger als fünf Kilotonnen TNT.
Ähnliche Projekte zu nuklearen Waffen wurden am Höhepunkt des Kalten Krieges verworfen und von den letzten drei Präsidenten der USA gemieden. Doch die derzeitige Regierung scheint sie jetzt zu einem Teil ihrer Strategie zu machen. Außerdem werden die Ausgaben der Bush-Regierung für Nuklearwaffen heuer und in den nächsten fünf Jahren mehr als 50 Prozent über dem Jahresdurchschnitt während des Kalten Krieges liegen. (Umgerechnet in den Dollar-Kurs 2004).
Die neuen Angriffsziele
Im NIPP-Bericht wird als eine der möglichen Anwendungszwecke von Nuklearwaffen ihr Einsatz gegen mobile Raketenabschussbasen genannt. Solche wurden von den Irakis im ersten Golfkrieg verwendet. Wenn die Position der Basen nicht genau genug für einen konventionellen Angriff bestimmt werden kann, dann "könnten auf verdächtige Einsatzgebiete mehrere Nuklearwaffen abgefeuert werden", so der Bericht.
Der US-Sicherheits- und Verteidiungsexperte John Pike von "Global Security" zeigt sich im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" jedoch überzeugt, dass das Militär niemals eine solche Taktik verfolgen würde. Laut Pike stehen hinter der Vergrößerung der atomaren Waffenkraft der USA die Ideologen. "Es war so lange Teil ihrer Glaubenslehre, dass es zu einem Reflex geworden ist ... es ist ihre Religion".
Atomare Sprengkörpern können auch, so schlagen sowohl Payne als auch der NPR-Bericht vor, eingesetzt werden, um "politische Ziele" zu erreichen. Schon im Jahr 2002 gab es Spekulationen, dass die Nichtverbreitung von Atomwaffen von der USA mit einem Angriff, nuklear oder konventionell, durchgesetzt werden könnte.
"In einer für Bush idealen Welt können die USA ihre konventionelle Streitmacht einsetzen, ohne Angst haben zu müssen von irgendwelchen Massenvernichtungswaffen daran gehindert zu werden", sagt Christopher Paine, US-Experte für Nuklearpolitik gegenüber der "Wiener Zeitung". Er merkte auch an, dass das derzeitige Atomwaffenprogramm der US-Regierung eine "Zuwiderhandlung gegen Artikel 6 des Atomwaffensperrvertrages" darstellt.
Cirincione weist darauf hin, dass "die meisten in der US-Regierung den Vertrag als etwas ansehen, das geduldet wird, aber nicht unbedingt als etwas, das man einhalten muss". Derzeit gibt es Kritik aus den USA an dem Vertrag über das Verbot von Atomtests. Einige Experten sagen sogar die Bush-Regierung ist dagegen, was die Wiederaufnahme von US-Atomtests bedeuten könnte.
Am 23. Februar wurde dem US-Kongress ein Untersuchungsbericht vorgelegt, wonach die Regierung der Überzeugung ist, dass Amerika bereit sein muss, einen Präventivschlag gegen jede Bedrohung zu führen, die einen solchen rechtfertigt. In dem Bericht wird auch gewarnt, dass die Regierung derzeit "nukleare Präventivschläge gegen Nationen oder Gruppierungen in Betracht ziehen könnte, die selbst über keine atomaren Waffen verfügen".
Die Überlegungen der USA gehen weiterhin in Richtung Anti-Terror-Krieg. Der Direktor der Waffenkontrollgesellschaft in Washington, Daryl Kimball, merkt jedoch an, dass Nuklearwaffen "immer Massenvernichtungswaffen sind", egal von wem sie eingesetzt werden. Der Krieg gegen den Terror scheint im Pentagon jedoch eine neue Denkweise hervorgebracht zu haben: "Wie wir kämpfen und nicht wen wir bekämpfen ist wichtig".
Kritiker befürchten, dass sich eine Politik unter dem Motto "Bomb' sie jetzt mit Nuklearwaffen nieder und entschuldige dich später" herauskristallisieren könnte. Douglas Faith, Staatssekretär im Verteidigungsministerium, ist jedoch bemüht, der Öffentlichkeit zu versichern, dass die derzeitigen Bemühungen der Regierung "den Einsatz von Nuklearwaffen unwahrscheinlicher machen" und das die Reizschwelle für einen atomaren Angriff hoch bleibt. Pike allerdings berichtet, dass alle in Washington wissen, dass die Reizschwelle sinkt. Viele im Pentagon halten das jedoch für eine positive Entwicklung.
Der "Wiener Zeitung" wurde der Inhalt eines Berichtes des Wissenschaftsbeirats des Pentagon (DSB) vom Februar bekannt, in dem die militärische Zukunft Amerikas dargelegt ist. Titel des noch nicht öffentlich zugänglichen Papiers ist "Future Strategic Strike Forces" (FSSF), also zukünftige Eingreiftruppen.
Während bereits mehrheitlich die Überzeugung herrscht, dass der Irak nie irgendwelche Massenvernichtungswaffen besessen hat, werden in dem FSSF-Bericht drei Mrd. Dollar für Operationen der Geheimdienste, für die Überwachung und für Aufklärungsgeräte gefordert. Die Begründung: "Wir haben die Massenvernichtungswaffen, von denen wir wissen, dass sie existieren noch nicht gefunden".
Gegen den Kongress
Mit dem neuen Nuklearwaffenprogramm werden hunderte Mrd. Dollar in die Rüstungsindustrie fließen. Eine der Zielrichtungen der US-Regierung ist die Entwicklung einer "Mini-Atombombe", die Bunker zerstören kann. Kosten soll sie 485 Mill. Dollar. Dafür hat die Regierung sogar den Kongress getäuscht und gegen amerikanisches Recht verstoßen.
Die Mini-Bombe soll auch tief unter Erde oder Felsen befindliche Bunker zerstören können. Im FSSF-Bericht wird sie als "saubere Waffe mit geringer Sprengkraft" bezeichnet. Zivile Opfer könnten fast ganz ausgeschlossen werden.
Sidney Drell, Physiker an der Stanford Universität und langjähriger Berater im US-Nuklearprogramm ist anderer Ansicht. Eine solche Detonation könnte bereits bei einer Sprengkraft von einer Kilotonne, über 28.000 Kubikmeter an radioaktiven Trümmern in die Luft schleudern. Der wissenschaftliche Hilfsdienst des Kongresses (CRS) hat dargelegt, dass eine Detonation einer solchen Atombombe mit fünf Kilotonnen etwa im Raum von Bagdad oder Damaskus 200.0000 Todesopfer fordern würde. Wobei über die folgenden zwei Jahre weitere Opfer zu befürchten wären.
Um die Entwicklung solcher "sauberer" Bomben zu ermöglichen, hat der Kongress ein Verbot der Forschung an solchen Atombomben, das sogenannte Spratt-Furse-Gesetz, im November 2003 aufgehoben. Der Kongress gestattete die Nuklearforschung für militärische Zwecke allerdings nur eingeschränkt. Es sei wahrscheinlich, dass die Konzeptarbeit, die 2002 von der Regierung begonnen worden war, gegen das Spratt-Furse-Gesetz verstoßen hat, bestätigt Cirincione.
Des weiteren wurde für die Forschungen ein Fünf-Jahres-Budget aufgestellt. Dazu meint Kimball zur "Wiener Zeitung": "Nicht für jedes Waffen-System gibt es ein Fünf-Jahres-Budget. Damit wird klar, dass sie vorhaben, die Waffen auch zu entwickeln." Ein solcher Schritt müsste jedoch vom Kongress genehmigt werden und dieser hat bisher nur die Forschung aber nicht die Entwicklung erlaubt.
Die Bush-Regierung scheint Befugnisse des Kongresses an sich reißen zu wollen. In einem Brief an Linton Brooks, den Leiter der National Nuclear Security Administration (NNSA), die für die Planung und den Bau von Atomwaffen zuständig ist, beschuldigten ihn sowohl der Sprecher der Demokraten als auch jener der Republikaner im Kongress, sie falsch informiert zu haben.
Ein von Brooks, dem Leiter der National Nuclear Security Administration (NNSA), am 5. Dezember 2003 ausgegebenes Memo macht deutlich, dass die Regierung die Einschränkungen des Kongresses zur Forschung an Nuklearwaffen ignoriert hat. Er schrieb, dass die Labors "freie Hand haben, eine Reihe von technischen Möglichkeiten auszuprobieren, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, dass einige davon gegen eine undeutlich formulierte, zweideutige Einschränkung verstoßen".
Nuklearwaffen-Verfechter wie Brooks haben "schon immer gewusst, dass ein atomarer Angriff die Lösung ist und nur lange genug nach dem passenden Problem gesucht", fasst Pike zusammen.
Übersetzung: Barbara Ottawa
Ein Folgeartikel wird sich mit den internationalen Auswirkungen der US-Atompolitik beschäftigen.