Ökonomisch rechnen sich AKW ohne Subventionen längst nicht mehr. Was hat die Welt aus Fukushima und Tschernobyl gelernt?
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Nach der Reaktorkatastrophe 1986 in Tschernobyl wurde trotz zahlreicher Unfälle und Störungen ein weiterer Super-GAU in einem AKW lange als höchst unwahrscheinlich angesehen. Und doch ereignete sich das 25 Jahre später erneut: Am 11. März 2011 kollabierten mehre Kühlsysteme im Atomreaktor der japanischen Anlage Fukushima Daiichi. Kurz zuvor war der Nordosten Japans von einem heftigen Erdbeben erschüttert worden, gefolgt von einem riesigen Tsunami mit bis zu 40 Meter hohen Wellen. In der Folge kam es in den Blocks 1 und 3 des AKW zu Kernschmelzen.
Radioanuklide kontaminierten die Luft, Böden, Wasser, Nahrungsmittel und die Umgebung. Mehr als 160.000 Menschen mussten aufgrund des Erdbebens, des Tsunamis und des Super-GAUs die Region verlassen. Beide Katastrophen wurden in der internationalen Bewertungsskale für nukleare Unfälle, der sogenannten Ines-Skala, in der höchsten Stufe 7 gelistet. Mit anderen atomaren Unfällen wie jenen in Sellafield (1957), Harrisburg (1979) oder Tokaimura (1999) ergibt sich eine beunruhigende Regelmäßigkeit ernstzunehmender Störfälle und Katastrophen. Sie können trotz aller Sicherheitsvorkehrungen und Versprechen nicht ausgeschlossen werden. Welche Lehren haben die Atomenergie nutzenden Länder daraus gezogen?
Die Sicherung der nuklearen Hinterlassenschaften und die Entsorgungsmaßnahmen haben in Tschernobyl gewaltige Probleme verursacht. Weltweit wurden schon 646 Milliarden Euro dafür aufgebracht. Ein mächtiger Sarkophag umhüllt heute die Anlage in der Ukraine und soll vor dem Austritt gefährlicher Strahlung schützen. In Fukushima wird nach Schätzung der japanischen Regierung die Havarie mit all ihren Folgeschäden insgesamt wohl 170 Milliarden Euro verschlingen. Längst sind noch nicht alle der 1.500 hochradioaktiven Brennstäbe geborgen. Um die Reaktorblöcke zu kühlen, pumpt das Elektrizitätswerk zehntausende Tonnen Wasser in die Anlage; einiges davon auch ins Meer, trotz der gravierenden Risiken, die mit der Radioaktivität verbunden sind.
Dennoch will die japanische Regierung die (noch) geplanten Olympischen Spiele auch in der Präfektur Fukushima veranstalten - der olympische Fackellauf soll dort seinen Anfang nehmen. Sie will der Welt zeigen, dass die Folgen des tragischen Unfalls im AKW nun behoben und die technischen Risiken der Atomenergie im Prinzip beherrschbar seien. Den Anteil des Atomstroms am Strommix will Japan bis zum Jahr 2030 auf 22 Prozent ausbauen. Auch deshalb will die japanische Regierung die Menschen aus der Region zur Rückkehr in die Gebiete rund um das havarierte Kraftwerk bewegen und hat deshalb die Subventionen gestrichen, die für die Evakuierten bereitgestellt worden waren. Viele Gruppen und Verbände protestieren in Japan wie weltweit gegen die Olympischen Spiele; allerdings nicht wegen des Reaktorunfalls, sondern weil diese in Zeiten der Corona-Pandemie nicht zu legitimieren seien.
Trotz der Katastrophe von Fukushima wird in der Politik wie in der Nuklearindustrie regelmäßig die Renaissance der Atomenergie gefeiert. Deren Niedergang ist in der Statistik aber bereits seit 2006 abzulesen: Der damalige Höchststand an erzeugter Kernenergie wurde seither nicht mehr erreicht. Im weltweiten Strommix dümpelt der Atomstrom, der in rund 413 AKW in 32 Ländern erzeugt wird, um die 10 Prozent. Im Jahr 2020 gingen fünf AKW neu ans Netz, sechs aber wurden abgeschaltet. Von vielen Reaktoren geht weltweit schon aufgrund ihres Alters (im Durchschnitt 30 Jahre) ein erhebliches Risiko aus.
Kostenexplosionen und Verzögerungen im AKW-Bau
50 AKW sind offiziell im Bau, ein Dutzend davon schon seit 20 Jahren. Bei vielen gibt es kein offizielles Datum für die Inbetriebnahme, die Hälfte liegt weit hinter dem Zeitplan zurück. Bei vielen Projekten kommt es außerdem zu regelrechten Kostenexplosionen, auch bei den neuen Europäischen Druckwasserreaktoren (EPR). In Finnland liegt die Fertigstellung der EPR-Anlage Olkiluoto 3 mehr als zehn Jahre hinter dem Zeitplan, die Kosten haben sich verdreifacht. Auch bei den Neubauprojekten Hinkley Point C in Großbritannien und Famanville in Frankreich lassen sich weder Zeitplan noch Finanzbedarf seriös bestimmen. Für Hinkley Point C hat die britische Regierung einen garantierten Stromabnahmepreis von umgerechnet 11 Cent je Kilowattstunde über 35 Jahre und einen Inflationsausgleich zugesagt. Trotzdem wird die Stromproduktion deutlich teurer als mit Wind- oder Photovoltaik-Anlagen.
Ökonomisch rechnen sich AKW ohne solche staatlichen Subventionen schon lange nicht mehr. Sie sind gegenüber der Marktdurchdringung von erneuerbaren Energien, die Strom immer günstiger erzeugen, nicht wettbewerbsfähig. Vor allem aber: Ein Super-GAU ist bei Erneuerbaren vollständig ausgeschlossen. Dass die AKW-Betreiber sich nicht gegen Unfälle versichern müssen, schönt zwar die Bilanz, doch nach Fukushima sind die Kosten dafür, die Sicherheitsstandards zu erfüllen und mögliche Risiken technisch zu minimieren, gestiegen. Ohne technischen Beistand und finanzielle Hilfe aus China, Russland, den USA oder Südkorea werden heute keine AKW mehr ans Netz gehen. Das zeigt sich auch an den hoch umstrittenen Neubauplänen in Polen, die ohne die USA ein Papiertiger wären. Bei einem Super-GAU dort müssten 1,8 Millionen Deutsche für längere Zeit ihre Wohnungen und Häuser verlassen, so eine jüngst veröffentlichte Studie.
Das einzige starke Argument für Atomstrom, das es noch gibt, baut auf der großen Erzählung des Klimaschutzes auf. Für die Internationale Energieagentur (IEA) ist die Atomenergie ein wesentlicher Bestandteil bei der Entwicklung eines kohlenstoffarmen Stromsystems mit reduzierten CO2-Emissionen. Selbst der Weltklimarat, der die Klimaverhandlungen der UNO wissenschaftlich begleitet, weist auf die klimafreundliche Stromerzeugung von AKW hin. Sicher, Atomstrom erzeugt zwar im Vergleich zu Kohle- oder Gaskraftwerken weniger CO2, aber emissionsfrei ist er deshalb noch lange nicht. Die Emissionen entstehen besonders vor und nach der Stromerzeugung, etwa beim umweltbelastenden Uranabbau, beim Kraftwerksbau sowie beim Rückbau und bei den umfangreichen Baumaßnahmen zur Zwischen- und Endlagerung samt Transport der entsprechenden Materialen.
Nicht als Brückentechnologie bei der Energiewende geeignet
Darüber hinaus eignen sich AKW nicht als Brückentechnologie vom fossilen ins erneuerbare Energiezeitalter. Sie entsprechen noch einem zentralistischen Versorgungssystem, sind schwerfällig und lassen sich bei Bedarf nicht kurzfristig hochfahren. Für den Übergang ins Zeitalter der dezentralen, erneuerbaren Energien sind sie irrelevant. Außerdem erzeugen AKW nicht nur Strom, sondern auch hochradioaktiven Atommüll, für den es auf der ganzen Welt noch kein Endlager in Betrieb gibt. Selbst wenn beim Rückbau, beim Transport des Atommülls, beim Um- und Verpacken und bei der Einlagerung keine Unfälle auftreten, ist dieser Prozess dennoch komplex, riskant und anspruchsvoll. Wir überlassen unvorstellbaren 40.000 Generationen ein atomares Vermächtnis, das nur wenige Jahrzehnte "billigen" Atomstrom und vor allem gesellschaftliche Konflikte erzeugt hat.
Oft wird die zivile Atomkraft angepriesen. Das aber ist eine doppelt problematische Perspektive. Denn erstens kann jedes AKW und jedes Zwischenlager ein Ziel für terroristische Angriffe sein. Zweitens besteht ein enger (geo-)politischer, industrieller und technischer Zusammenhang zwischen der zivilen und der militärischen Nutzung der Atomenergie. Mit jedem neuen Land, das AKW in Betrieb nimmt, wie zuletzt den Vereinigten Arabischen Emiraten und Belarus, steigt das Risiko der Weiterverbreitung von Atomwaffen. Es ist kein Zufall, dass vor allem die Atommächte an der Nutzung der Kernenergie ein besonderes Interesse haben.
Auch die deutsche Bundesregierung hat aus Fukushima nichts gelernt, sondern eher im Affekt gehandelt. Der Atomausstieg wurde bereits von der rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2000 beschlossen. Schwarz-Gelb hat diesen Beschluss zurückgenommen und 2010 die Verlängerung der Laufzeiten der deutschen AKW durchgesetzt. Bundeskanzlerin Angela Merkel zog erst unmittelbar nach dem Super-GAU den Schlussstrich: Die sieben ältesten AKW Deutschlands wurden vom Netz genommen und ein dreimonatiges Moratorium wurde festgelegt. Der Atomausstieg wurde auf 2022 datiert.
Aufräumen und Entsorgung aus Kalkül vertagt und verschleppt
In der Standortsuche für ein Endlager hat Deutschland einen Neustart verkündet, weil die politisch motivierte Festlegung auf den Salzstock Gorleben gegen den Widerstand der vielen engagierten Bürgerinitiativen und Proteste nicht durchsetzbar war. Nun soll der Standort mit Bürgerbeteiligung und deren Mitgestaltung, in einem lernenden Verfahren partizipativ und streng wissenschaftlich, gefunden werden. Die Lernkurve wurde also extrem lange flach gehalten. Die Genehmigungen der Zwischenlager werden nach heutigem Stand auslaufen, lange bevor ein Endlager für den hochradioaktiven Müll aus AKW errichtet sein wird. Die bestehenden Anlagen müssen also ertüchtigt und neue Zwischenlagerkonzepte erarbeitet werden.
Nach Jahrzehnten der Nutzung der Atomenergie und ordentlicher Profite sind das Aufräumen und die Atommüllentsorgung aus politischem und wirtschaftlichem Kalkül vertagt und verschleppt worden. Jetzt soll der Standort für das Endlager bis 2031 feststehen, der Bau des Lagers wie die Einlagerung des Atommülls sollen bis Ende dieses Jahrhundert erfolgen; nach allen bisherigen Erfahrungen im Umgang mit solchen Hochrisikotechnologien dürfte es eher das 22. Jahrhundert (!) werden. Eine Million Jahre soll der Atommüll dann möglichst sicher von den Menschen und der Umwelt abgeschottet werden - nach menschlichem Ermessen eine Ewigkeitslast.
Maria-Rosaria Di Nucci und Achim Brunnengräber forschen und lehren am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften und am Forschungszentrum für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin. Sie arbeiten mit 17 Forscherteams aus Deutschland und der Schweiz im Verbundvorhaben "TRANSENS" (Transdisziplinäre Forschung zur Entsorgung hochradioaktiver Abfälle in Deutschland).