Kernkraftwerke stellen im Krieg ein besonderes Risiko dar - Brand im AKW Saporischschja aber "keine Gefahr für Österreich".
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Der Beschuss eines Kernkraftwerks steht für akute Gefahr. Zwar sieht es für den Moment so aus, als hätte die Welt noch einmal Glück gehabt. Doch die allgemeine Lage hat nichts Tröstliches, zumal Atomkraftwerke im Krieg ein besonderes Risiko darstellen.
Im größten Atomkraftwerk Europas, Saporischschja in der Ostukraine, brannte in der Nacht auf Freitag ein Schulungsgebäude, nachdem das AKW von russischen Raketen beschossen worden war. Nach Angaben einer regionalen Behörde wurde es von russischen Truppen eingenommen, das Betriebspersonal überwache jedoch den Zustand der Kraftwerksblöcke.
"Bei der Explosion ist kein radioaktives Material ausgetreten", entwarnte IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi am Freitag in Wien bei einer eilig einberufenen Pressekonferenz. Es bestehe derzeit keine Gefahr für Österreich, versicherte Klimaschutzministerin Leonore Gewessler.
Die Ukraine betreibt 15 Reaktoren in vier Kraftwerken. Das 44- Millionen-Einwohner-Land deckt die Hälfte seines Strombedarfs über Atomkraft. Saporischschja hat in Europa die größte Kapazität für Stromproduktion. Die Anlage verfügt über sechs Meiler mit einer Kapazität von je 950 Megawatt der insgesamt 5,7 Gigawatt. Die Reaktoren gehören zur sowjetischen Baureihe WWER-1000/320, wie jene des AKW Temelin in Tschechien. Der erste Meiler ging 1984 ans Netz, der letzte 1995.
Am Freitag berichtete die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf die IAEA, Meiler 1 sei abgeschaltet. Meiler 2 und 3 seien vom Netz genommen und derzeit werde die Kernspaltung heruntergefahren. Meiler 4 erzeuge Strom mit einer Kapazität von 690 Megawatt und Meiler 5 und 6 seien ebenfalls heruntergefahren.
Saporischschja ist von strategischer Bedeutung für Russland, da es nur 200 Kilometer von der Halbinsel Krim entfernt ist, die Russland 2014 annektiert hat. Nach der Annexion hatte die ukrainische Regierung die Nato gebeten, die Sicherheit aller Atomanlagen im Land zu prüfen. Damals befanden die Nato-Experten die Anlagen als technisch sicher.
Anders als Tschernobyl
Der Wiener Risikoforscher Nikolaus Müllner blickt dennoch "sehr beunruhigt" in Richtung von Europas größtem AKW, da solche Anlagen gegen viele Bedrohungen ausgerichtet sind, gegen militärische Angriffe jedoch nicht. Bei der Risikoeinschätzung hinsichtlich allerlei Naturgefahren existiere eine lange Liste, doch eine kriegerische Auseinandersetzung sei nicht darunter, sagte der Wissenschafter vom Institut für Risikowissenschaften der Universität für Bodenkultur Wien am Freitag zur Austria Presse Agentur.
Schon in der Vorwoche hatte sich die IAEA besorgt über Kämpfe in der Nähe des AKW Tschernobyl gezeigt. "Allerdings kann man den Angriff auf Saporischschja nicht mit der Nuklearkatastrophe vom April 1986 vergleichen", sagt Mario Villa, Betriebsleiter des Forschungsreaktors am Atominstitut der Technischen Universität Wien. "In Tschernobyl befand der Reaktor sich in einem Betriebszustand, in dem er sich wie eine Kernwaffe verhielt: Der gesamte Reaktor explodierte", sagt Villa zur "Wiener Zeitung". Dabei seien so große Energiemengen freigeworden, dass Spaltprodukte, wie Cäsium-137 oder Iod, "hoch in die Atmosphäre geblasen, mit dem Wind zu uns geweht und mit dem Niederschlag hier ausgewaschen wurden. Ein Angriff mit einer ballistischen Rakete wäre hingegen bei einer Explosion zwar lokal verheerend, sie würde aber nicht die Energie beinhalten, um Material bis in die Stratosphäre zu bringen", erklärt der Experte. "Eine andere Frage ist, wie sehr Russland die Energieversorgung der Ukraine gefährden wird."
Automatische Sicherheitssysteme
Bei Reaktoren der Baureihe WWER-1000/320 handelt es um Druckwasserreaktoren, die mit Systemen westlicher Bauart vergleichbar und "ganz anders als der Typ ‚Tschernobyl‘" seien, erklärt Müllner. Diese Systeme würden eine Eindämmung um den Reaktor herum besitzen, um radioaktive Freisetzung zu stoppen. "Bleibt ein solches Kraftwerk intakt, hat es Sicherheitssysteme, die automatisch anspringen und agieren." Einige Zeit könne die Anlage sogar ohne Operateure mit etwaigen Unfallfolgen umgehen.
Müllner geht davon aus, dass die Betriebsmannschaft auch nach der Übernahme vor Ort bleibt. Dass ein komplett neues Team aus Russland herangeführt wird, glaubt er nicht. Jedes Kraftwerk habe auch "seine Eigenheiten", daher könne man Operateure nicht einfach austauschen. Weiters sei anzunehmen, dass in Saporischschja derzeit Notstromaggregate die Nachkühlung der Reaktoren vornehmen. Dazu müssten aber die Sicherheitssysteme weitgehend funktionsfähig bleiben. Wenn sie bei Kämpfen beschädigt werden, könnte man Netzanschluss und Notstrom verlieren, "dann habe ich eine Situation wie in Fukushima".
Bei der Unfallserie von Fukushima im Jahr 2011 aufgrund eines Erdbebens kam es zu Kernschmelzen. Große Mengen an radioaktivem Material wurden freigesetzt. Im Gegensatz zu den Reaktoren von Fukushima haben WWER-Reaktoren jedoch neben Eindämmung, um radioaktive Freisetzung zu stoppen, auch getrennte Wasserkreisläufe, um den Reaktor zu kühlen und Dampf zu erzeugen, erklärt der Kernkraftexperte Tony Irwin von der Australian National University. Würde der Fall eintreten, dass dort Radioaktivität austritt, müsste man es schon mit einem "unwahrscheinlich" großen Unfall zu tun haben.
"Es kann sein, dass beide Seiten Vernunft walten lassen, denn jede Kriegshandlung kann AKW-Anlagen beschädigen", sagt die Technik-Historikerin Anna Veronika Wendland, die in einem Atomkraftwerk in der Westukraine geforscht hat, zu "Deutschlandfunk Kultur": "Gegen Krieg kann man ein Atomkraftwerk nicht schützen." Wenn Strahlung freigesetzt wird, könne man diese mit hierzulande "extrem feinen" Messgeräten detektieren, "auch wenn wir weit weg von einer gesundheitlichen Gefährdung sind", sagt Müllner. Würde aber der Kern der Anlage gezielt vernichtet, wäre das auch hierzulande ein Problem.